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Diese Perfidie, das Opfer, das sich wehrt zum Täter zu erklären, thematisiert Serebrennikov ( „Der Wij“, Regie: Kirill Serebrennikow, Thalia Theater Hamburg)
Foto: Fabian Hammerl

„Ich bin nicht außer mir vor Wut, im Gegenteil“

11. April 2023

Olaf Kröck über die Recklinghäuser Ruhrfestspiele und Theater in Kriegszeiten – Premiere 04/23

trailer: Herr Kröck, kann man im Theater sitzen, während in Europa Kinder von Bomben zerfetzt werden?

Olaf Kröck: Die Frage impliziert für mich einen gewissen Zynismus. Als würde der Theaterzuschauer keine Empathie empfinden und nicht zutiefst schrecklich finden, was dieser grausame Angriffskrieg bedeutet, den Putin und die russische Regierung zu verantworten haben. Das kann man überhaupt nicht in irgendein Verhältnis setzen. Ich finde die Frage problematisch, als hätten die Menschen, die ins Theater gehen, keine Berechtigung, auch etwas anderes zu erleben. Natürlich ist unser Leben nicht in Deckung mit dem Grauen, das gerade in der Ukraine erlebt wird oder den Menschen im Iran oder in Afghanistan passiert. So unterschiedlich die Beispiele sind, aber es gibt ja noch ein paar andere, die einem den Abend stocken lassen.

Olaf Kröck
Foto: Knotan

ZUR PERSON
Olaf Kröck (*1971 in Viersen) studierte Angewandten Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Er war 2001 bis 2004 Dramaturg Experimentierbühne „UG“ am Luzerner Theater sowie 2005 bis 2010 am Schauspiel Essen, danach am Schauspielhaus Bochum. In der Spielzeit 2017/2018 ist Kröck dort Intendant. Ab dem nächsten Jahr leitet er die Ruhrfestspiele in Recklinghausen.

Aber bei den Ruhrfestspielen thematisiert ausgerechnet Kirill Serebrennikow den momentanen Schrecken?

Ja. Weil dieser Russe seit Jahrzehnten in deutlicher Opposition gegenüber Putin steht, fünf Jahre in Hausarrest gezwungen wurde und als Künstlerischer Leiter mit dem Gogol-Center den Versuch unternommen hat, von einer liberalen, offenen russischen Gesellschaft zu erzählen.Heute ist das Gogol-Center geschlossen und er lebt im Exil. Und Kirill Serebrennikowtutin dieser Arbeit ja auch nicht irgendwas: Zusammen mit einem jungen ukrainischen Autor, mit einem Ensemble aus Ukrainern, Russen und Deutschen hat er sich einen ukrainischen Mythos vorgenommen, „Der Wij“. Welche Absurdität ist es, dass der renommierte Künstler Serebrennikow jetzt auf sein Russischsein reduziert wird. Er stellt sich ja seiner Verantwortung. Er ist der Ausdruck der freien russischen Gesellschaft, die brutal unterdrückt wird, und er stellt sich der Schuldfrage, die sein Heimatland verursacht. Aber mehr noch – und das ist das Besondere dieser Arbeit – er stellt die Frage, welche Entmenschlichung auf der Seite des Angegriffenen plötzlich passiert. Das ist doppelt intelligent und doppelt wichtig, weil gerade diese hochzweifelhaften, in Anführungsstrichen Friedensdemonstrationen in Berlin, Teile der Putin-Argumentationen wieder aufgreifen. Und er thematisiert, dass die auch behaupten, dass die jetzt Angegriffenen, wenn sie sich mit Mitteln der Gewalt wehren,Schaden anrichten. Diese Perfidie, das Opfer, das sich wehrt, zum Täter zu erklären, thematisiert Serebrennikow. Sie werden nicht der Einzige sein, der dies formulieren wird, aber ich finde es gerade deswegen hochproblematisch, dass jetzt bei diesem Künstler ausschließlich das Russischsein nach vorne gestellt wird. Welcher Nationalismus reproduziert sich in der Frage? Das ist das, was mir als Kulturmacher ein Stück weit den Atem nimmt.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang das Motto „Rage und Respekt“ der diesjährigen Ruhrfestspiele?

Das Programm ist kantiger als in den Vorjahren. Wir gehen mehr auf das Emotionale, Affekthafte, jeder von uns ist schon mal in Rage geraten und hat die zerstörerische Kraft erlebt, die durch einenselbst in dem Moment entsteht. Körperliche Gewalt meine ich damit nicht, aber wütend haben wir schon mal jemanden beschimpft, was in Rage passiert. Doch es ist nur möglich, ein demokratisches Miteinander herzustellen, wenn ein wichtiges Fundament da ist, nämlich der Respekt, und der hat zwei Basisvoraussetzungen: Frieden, weil erst wenn man im Frieden lebt, kann Respekt stattfinden, und Freiheit, damit sich jeder in seiner Façon entfalten darf mit der Grenze der Freiheit des Gegenübers, denn ich kann nicht alles als Ausdruck meiner persönlichen Freiheit deklarieren.

Aber wie kann man außer sich vor Wut Zugangsschwellen zum Theater abbauen?

Ich bin nicht außer mir vor Wut, im Gegenteil. Ich weiß, dass Kulturinstitutionen wie wir als Ruhrfestspiele Zugangsschwellen aktiv abbauen müssen. Ich kann mich nicht hinstellen und sagen, es sei doch ganz einfach, zu uns zu kommen, und mich dann beschweren, wenn jemand nichtkommt. Wir assoziieren damit ja Personenkreise oder Milieus, die sozusagen qua Definition keinen Zugang zu Hochkultur finden. Das hat natürlichauchmit Geld zu tun, mit ökonomischen Ressourcen, aber eben auch mit der Kulturtechnik, in ein Theater zu gehen. Das kann uns nur gelingen, wenn wir ganz proaktiv auf entsprechende Milieus zugehen, sie in Projekte involvieren, einladen, uns auf Augenhöhe begeben und zu ihnen hinbewegen. Die Jungen Ruhrfestspiele sind da sehr aktiv und wir gehen in die Stadt, haben wie in den anderen Jahren ein sehr breitgefächertes Programm, das zum Teil auch sehr niederschwellig ist, wo man keine sprachlichen Voraussetzungen oder Theatererfahrungen braucht. 

90 Produktionen, zwei Uraufführungen, zwei Europapremieren, fünf Deutschlandpremieren, zwei Eigenproduktionen, 650 Künstler:innen aus der ganzen Welt – wo schlägt man denn da irgendwelche Orientierungspunkte ein?

Indem man nicht nur eine Sache stark macht. Ich glaube fest an die Eigenkompetenz unseres Publikums, sich Interessen-geleitet zu orientieren und dann aber auch einen neugierigen Blick auf die Bereiche zu werfen, die einen nicht sofort ansprechen.

Da passt dann auch das Tibet-Theater rein?

Mit all den Punkten, die ich gerade gesagt habe. Mit „Pah-Lak“ kommt ein tibetisches Ensemble, daserstmalig außerhalb von Indien in tibetischer Sprache auftritt – einer der wichtigsten Kulturfaktoren, die eigene Sprache, die ja in China unterdrückt ist. Das Tibet Theatre mit dem Tibetan Institute of Performing Arts Dharamsala passt sehr gut ins Programm, denn die Tibeter seien die Superstars des gewaltfreien Widerstands gegen die chinesische Besatzung, hat der Autor von „Pah-Lak“, Abhishek Majumdar, mal gesagt. Mit all den brutalen Konsequenzen –das zeigt diese Arbeit.

Es hieß auf dem grünen Hügel mal ‚Kunst gegen Kohle‘. Angesichts der letzten Generation müsste es ja heute ‚Kunst statt Kohle‘ heißen, oder?

Die Steinkohle wird nicht mehr abgebaut im Ruhrgebiet, sie wird zwar noch verbrannt, aber nicht abgebaut. Für uns kann das also nur ein metaphorischer Gedanke sein. Zweifelsohne hat der Kohlebergbau diese Region stark gemacht und zu dem gemacht, was sie ist. Wir wissen auch, dass noch vor 50 Jahren die Karbonisierung und die damit verbundenen Folgen überhaupt nicht absehbar und klar waren. Aber die Idee für ein anderes politisches Bewusstsein stecktin diesem Arbeiterfestival mit drin und das geht nur, wenn es für alle da ist.

Ruhrfestspiele | 1.5. - 11.6. | u. a. Festspielhaus Recklinghausen | 02361 921 80

Interview: Peter Ortmann

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