Zollverein, einst modernste Zeche der Welt, heute von wilder Vegetation umwuchertes Welterbe, ist ein Sinnbild für Wandel und Verwandlung. Ein inspirierendes Areal, um Natur und technischen Fortschritt heute neu zu verknüpfen und mit innovativen Medien künstlerisch zu beleuchten. Das „New Now“-Festival für Digitale Künste lud in seiner zweiten Ausgabe mit dem Festivalthema „Hypernatural Forces“ zehn Medienkünstler ein, neue Werke mit Ortsbezug zu kreieren, um sie im bunkerähnlichen Ambiente der Mischanlage effektvoll in Szene zu setzen.
Das Empfangskomitee der Ausstellung bilden fünf Roboterhündchen, die nichts tun und nichts anderes können, als aufgeregt zurückzuweichen, wenn man sich nähert. Angesichts zeitgemäßer technologischer Möglichkeiten wirkt das Rudel von AATB wie aus der Zeit gefallen – eine aussterbende Art. Die fensterlosen oberen Ebenen präsentieren sich knallbunt und up to date. In den Nischen rund um den Trichterschlund gedeihen psychodelische Digital-Chimären aus Flora, Fauna und Elektroschrott, Fantasieorganismen in fortwährendem Mutationsprozess, eingebettet in Klangkulissen. Mikroben aus kontaminierten Industrieböden bevölkern als Projektion und Skulptur Wand und Boden. Irgendwer macht auch was mit Kohle, setzt eine Kletterwand neben eine Ameisenfarm oder visualisiert Datenströme der Ausstellungsbesucher. Fraglos verfolgen die Künstler ambitionierte Forschungsansätze, doch den audiovisuellen Umsetzungen sieht man sie nicht ohne Weiteres an. Die Werke illustrieren Ideen, stehen selten für sich. Ausgenommen Cinzia Campoleses für das bloße Auge scheinbar weiß gleißender LDC-Bildschirm, der in der Wasserfläche vor ihm das Abbild einer auf- und untergehenden Sonne spiegelt – ein einfacher wie hochpoetischer Aha-Effekt. Oder Stolzes & Rüttens Opernarien schmetternde Neophyten, die sich auf dem Industrieareal ungeniert angesiedelt haben, gekommen, um zu bleiben. Menschen spielen keine Rolle mehr.
Was also sehen wir hier? Diese Lücke schließen die interaktiven Audio-Walks der Vermittlerprofis vom Körperfunkkollektiv, die nicht nur Background zu Ort und Werken liefern, sondern zu kleinen Besucherperformances mit und vor der Kunst animieren. Und vor allem: fortwährend Fragen stellen, die die Wahrnehmung schärfen und Brücken bauen. Ganz klar, mit spielerischem Zugang gewinnt der digitale Brei Konturen.
New Now Festival – Hypernatural Forces | bis 6.8. | Mischanlage, Kokerei Zollverein Essen | 0201 246 81
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