Es lohnt sich wirklich: Man sollte viel Zeit für diese Ausstellung mitbringen. Für die Videokunst als zeitbasiertes, nur linear erfahrbares Medium sowieso, zudem dauern die Videofilme der französisch-marokkanischen Künstlerin Bouchra Khalili verhältnismäßig lange, die aktuelle Arbeit allein 43 Minuten. Und nun ist noch ein weiterer Videofilm im Museum Folkwang zu sehen – und das ist ein Glücksfall. Denn es schärft das Gespür für die filmischen Bilder, die vor allem Interviews und Filmporträts beinhalten, für die Bedeutung der genau gesetzten, meist monologischen Sprache teils aus dem Off und erst recht für die Langsamkeit und gelassene Ruhe, mit der sich die Handlungen entwickeln, ja, für die mitunter fast pedantische Erläuterung der Geschehnisse. Die Videofilme von Bouchra Khalili sind Umkreisungen bestimmter Themen, die vom Widerstand unterdrückter Gesellschaftsgruppen ausgehen. Sie wählen dazu historische Ereignisse, die, teils unterlegt von Sound, noch von Betroffenen vorgetragen werden und sie nehmen dazu Perspektiv- und Rollenwechsel vor. Zudem springt Khalili zwischen den Genres hin und her, sie arbeitet mit Standbildern und Montagen und blendet filmische und fotografische Dokumente ein, setzt Schrift hinzu und lässt Trickfilm-Sequenzen ablaufen. Als Kunstform zusammengehalten wird dieses komplexe Vorgehen durch das entschleunigte erzählerische Kontinuum mit seinem bedachten Rhythmus, seiner Gliederung in Kapitel, dem Aufgreifen vorheriger Erkenntnisse und der Sorgfalt des Berichts.
Gleichberechtigt zu den filmischen Bildern verwendet sie die mündliche Überlieferung: als Mitteilung von Ereignissen und Artikulation der eigenen Emotion und damit als authentisches, im Übrigen über Jahrtausende bewährtes Kommunikationsmedium. Bei dem Film „The Tempest Society“ sprechen die (fiktiven) Mitglieder einer Schauspielgruppe vor der leeren schwarzen Bühne. Und bei dem aktuellen Film „Twenty-Two Hours“ unterhalten sich zwei junge Afroamerikanerinnen in einem Saal und holen einen älteren Mann zu sich, den sie interviewen. In beiden Filmen liegen Rekonstruktionen von (Rand-)Ereignissen vor, die ihrerseits das damalige zeitgeschichtliche Geschehen kommentiert haben und sich nun wieder auf die Gegenwart beziehen lassen – wie ein Lehrstück.
„The Tempest Society“ ist als Theatergruppe im heutigen Athen eine Erfindung, beruht aber auf einer über sechs Jahre bestehenden Theatergruppe nordafrikanischer Einwanderer und französischer Studierender im Frankreich der 1970er Jahre. Bouchra Khalili erweckt die damalige Idee wieder zum Leben, indem drei Schauspieler unterschiedlicher Herkunft über die gegenwärtige geopolitische Situation der Flüchtlingsströme sprechen und zur Solidarität aufrufen. In „Twenty-Two Hours“ rekonstruieren die beiden Interviewerinnen eine USA-Reise von Jean Genet 1970, auf der er sich für die Black Panther Party einsetzte. Zugleich sprechen beide Filme eine Vielzahl von Subtexte an, die um das gesellschaftliche Zusammenleben und die Bedeutung des Gespräches und der Erinnerung kreisen.
Bouchra Khalili wurde 1975 in Casablanca geboren. Sie hat in Paris an der Sorbonne Filmgeschichte und an der Kunsthochschule studiert, und sie berichtet, dass ihre wahre Schule das Arthouse-Kino in Paris war. Zumal vor diesem Hintergrund: Als Filmemacherin versteht sie sich nicht. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen und eingeladen zu Ausstellungen auf der ganzen Welt, darunter die Biennalen in Sharjah, Sydney und Venedig, lebt sie heute in Berlin und unterrichtet als Professorin an der Kunsthochschule in Oslo.
Wurde „The Tempest Society“ von der letztjährigen documenta produziert, so ist „Twenty-Two Hours“ ein Auftragswerk der Ruhrtriennale. Das ist nicht der einzige diesjährige Beitrag der Ruhrtriennale im Bereich der Kunst, hinzu kommen Werke von Peggy Buth in Duisburg-Rheinhausen und Olu Oguibe in Bochum. Aber die Filme von Bouchra Khalili sind schon für sich kleine Sensationen – in diese Filmbilder kann man sich vergucken.
Bouchra Khalili – The Tempest Society / Twenty-Two Hours | bis 21.10. | Museum Folkwang Essen | 0201 884 54 44
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