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Anna Drexler, Maja Beckmann (v. li.)
Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Siehst du, das ist das Leben

15. Juni 2023

„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23

Das Leben ist auf eine eigenartige Art und Weise kompliziert. Cheryls Leben ist das auch, aber sie hat es sorgfältig mit Systemen geordnet, die ihm eine nicht ganz nachvollziehbare Logik verpassen. So ergibt es für Cheryl Sinn, dass sie von ihrem Farbtherapeuten die Essenz der Farbe Rot verschrieben bekommen hat: eine durchsichtige Flüssigkeit gegen den Kloß im Hals. In fremden Kindern erkennt sie Kubelko Blondy – ein Baby, das Cheryl mit neun einmal halten durfte – und führt mit ihnen Selbstgespräche. Aber Cheryl ist nicht einsam; sie ist verliebt in den 64-jährigen Philip aus dem Vorstand. Bis Philip ihr gesteht, dass er eigentlich nur Interesse an einer 16-Jährigen hat und nun Cheryls Erlaubnis möchte, endlich mit ihr schlafen zu dürfen.

Man könnte denken, das Chaos sei für Cheryl (Maja Beckmann) bereits immanent. Aber aus ihrer Perspektive wird es das erst mit ihrer Mitbewohnerin Clee (Anna Drexler), die ihre Teller nicht spült, regelmäßig ausrastet und sogar gewalttätig wird. Ihr gemeinsames Leben findet in der Inszenierung von Christopher Rüping auf einem abgeschrägten Trainingsboden statt. Man hat das Gefühl, die Schauspielerinnen könnten von der Bühne jederzeit ins Publikum und damit auch in einen selbst hineinfallen – und in gewisser Weise tun sie das auch. Die Geschichte um Cheryl und Clee ist ein bisschen wie das Zugunglück, von dem man seine Augen nicht lösen kann. Aber trotz all dem Schlechten – der Gewalt zwischen den beiden, der sexuellen Übergriffigkeit von Philip, in deren Rolle Anna Drexler mit überspielten Ekel hin und wieder schlüpft, den Problemen damit, die eigene Sexualität aus sich selbst heraus verstehen zu können – ergeben sich überraschend viele schöne Momente. Die Exzentrik der Charaktere aus Miranda Julys Roman bringt einen Witz mit sich, der einen auch mal über Dinge lachen lässt, die vielleicht eigentlich alles andere als witzig sind. Am Ende stehen die Charaktere über der Ernsthaftigkeit – Rüping lässt sie sie sogar bildlich transzendieren in einem Schlussbild, in dem sie an Seilen über der Bühne schweben, während die fantastische Sängerin, Musikerin und bei Rüping hin und wieder auch als Kommentatorin herhaltende Brandy Butler den umgedichteten Elton-John-Song „Rocket Girls“ singt.

Das Stück hinterlässt die Frage, ob die Aufarbeitung des Geschehenen etwas ist, über das man hinweggehen darf, wenn alle am Ende ein bisschen glücklicher sind als vorher, ohne zu verstehen, wie zweifelhaft die Verhaltensweise von einem und seinem Umfeld überhaupt sind. Gleichzeitig scheint es auch nicht immer so einfach, eigene Probleme überhaupt als solche zu erkennen – zum Beispiel, weil man eine queere Frau in einer Gesellschaft ist, die andere Lebenskonzepte als sich in Philip aus dem Vorstand zu verlieben nicht einmal denken lässt. So bleibt man wie Cheryl mit einem dauerhaften Kloß im Hals zurück.

Cheryls Kloß löst sich während des Stücks. Irgendwie findet sie Befreiung auf einem Weg, der alles andere als ideal ist. So wird der Abend zur Hommage an das Menschsein in seinem Facettenreichtum – besonders dann, wenn es zu kompliziert wird, um mehr damit zu machen, als es einfach zu zeigen.

Miranda Julys Der erste fiese Typ | R: Christopher Rüping | 15., 16.6. je 19.30 Uhr | Schauspielhaus Bochum | www.schauspielhausbochum.de

Elisa Voss

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