Willkommen in der Komfortmüllzone

Als Kaffee noch sitzend getrunken wurde, Foto: Dangubic / Adobe Stock

Willkommen in der Komfortmüllzone

Alternativen zur Wegwerfkultur

Der Deutsche an sich liebt es nice and tidy, und erst recht bei Speis und Trank, denn er mag sein Essen gern hygienisch drapiert. Bonbon für Bonbon, Praline für Praline. Und Größeres, was nicht auf einmal in den Mund geht, reicht man ihm zusätzlich häppchenweise einzelportioniert dar, von Mars Mixed Minis bis zur Kaffeekapsel. Das ist Irrsinn, aber Standard. Zugleich sieht sich der Deutsche in Sachen grüner Daumen ganz weit vorne. Also, zumindest in der ungetrübten Selbstwahrnehmung. Und das gute Gewissen kommt, wie so vieles, nicht von irgendwoher. Während die Industrie uns auf Überfluss und Darreichungsvielfalt abrichtet, trachtet die Regierung danach, unser gutes Gewissen zu wahren. Allerdings nicht, indem sie unvernünftige Verpackerei unterbindet. Nein, viel lieber stellt der liberale Staat dem Bürger bunte Plastiktonnen vor die Haustür – in gelb, in blau, in braun. Schließlich tut der Bürger dann was für die Umwelt. Noch besser: Wer Müll recycelt, muss ihn nicht vermeiden. Das funktioniert ja auch mit sogenannten CO2-Kompensationen für Flugreisen beim Klima prima. Der saubere Deutsche vermeidet nicht, er kauft sich frei oder recycelt. Nice and tidy.

Das Laster der Bequemlichkeit

Alles andere würde ja heißen, uns liebgewonnener Gewohnheiten zu berauben. Und wir haben uns an vieles gewöhnt in jüngster Zeit. Man stelle sich nur mal vor, es gäbe keinen Coffee to go mehr! Absolutes No-Go, erleichtert so ein Coffee to go der Menschheit doch so, äh – ja, so viel! Über 300.000 Einwegbecher pro Tag in Deutschland – das sagt schon alles und lässt sich nicht einfach wegdenken. Genauso wenig wie die 3,4 Milliarden Kaffeekapseln, die der Deutsche 2019 in seinen Komfortmüll entsorgte. Nun, das alles hat früher kein Mensch gebraucht, und auch da waren wir schon große Kaffeetrinker. Dann aber kam der Wegwerfbecher: Erstmal ungewöhnlich, wurde das Ungewohnte angewöhnt. Und eine neue Gewohnheit, die eine Erleichterung darstellt, gewöhnt man sich ungern ab. Außerdem ist das ja so etwas wie Freiheit, und Freiheit ist Grundrecht: Mein Recht auf Müll!

Wege aus der Wegwerfkultur

Deutschland zählt in der EU zu den fünf Topproduzenten von Plastikmüll. Nicht nur die Tier- und Pflanzenwelt der Ozeane verreckt daran, Mikroplastik sickert längst durch unsere Blutbahnen. Wir wissen das, nie war uns unser Handeln so gewahr – und doch knallen wir weiter sekündlich Coffee to go-Becher in die Tonne. Zugleich aber gibt es engagierte, konstruktive Ansätze und Chancen. Repair-Cafés bieten Werkstatt, Gerät und Hilfe an, wenn man mal aus der Wegwerfkultur ausbrechen möchte. Deutschlandweit gibt es bereits etwa 500 Initiativen, die überwiegend unter dem Netzwerk Reparatur-Initiativen vereint sind. Woanders versucht man sich statt am REcycling am UPcycling und gewinnt dabei Tassen aus Kaffeesatz, Windlichter aus Tetra Paks oder Haargummis aus Nylonstrumpfhosen.

Auch für den Coffee to go gäbe es Lösungsmöglichkeiten, z.B. über ein Pfandsystem. Und wenn ich unterwegs spontan einen Kaffee haben will und meinen Pfandbecher nicht dabeihabe? Dann setz’ ich mich halt ins Café: Der neueste Shit – Coffee to sit! Oder es gibt dann eben einfach mal keinen Kaffee auf die Hand. Dann gibt es eben nicht immer und überall alles, was ich gerade haben will. Müllvermeidung bedeutet Umgewöhnung. Entbequemisierung. Das Verlassen der Komfortmüllzone. Das wiederum verlangt Steuerung von oben. Tempolimit, Einwegstopp: Die Ampelkoalition könnte jetzt viel voranbringen – bis zur nächsten Bundestagswahl hätten wir uns längst daran gewöhnt.


VERBRANNTES GUT – Aktiv im Thema

kaisern.de/repair-und-naeh-cafe | Offenes Repair- und Upcycling-Café im Dortmunder Kaiserviertel.
leihladen-bochum.de | Der Bochumer Leihladen verleiht von Werkzeug bis zu Spielen alles kostenlos und mit individuellen Fristen.
reparatur-initiativen.de | Die Initiative versammelt Infos zu Repair-Cafés, Lokalgruppen und Workshops.

 

Autor

Hartmut Ernst

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