„Theorie ist ein Gipfel der Sinnlichkeit“
Alexander Kluge und die Essener Ausstellung „Pluriversum“ zu seinem 85. Geburtstag
trailer: Herr Kluge, liegt die intellektuelle Avantgarde nicht längst bei der theoretischen Physik?
Alexander Kluge: Die theoretische Physik ist die Speerspitze der Intelligenz, und wenn sie Gottfried Wilhelm Leibniz nehmen – den Theoretiker, den ich mit am meisten liebe – dann hat er 1714 die Theorie, die Monadologie, für die Quantenwelt geschrieben. Die Umkehrung des Zeitpfeils, die Verschränkung, die sprunghafte Fernwirkung, die Klangklänge – alle diese Feinheiten des Kleinen, das entspricht alles den blinden Monaden, die doch zusammengenommen große Kosmen entwickeln. Ich kann mich, wenn ich mich darüber austausche, besoffen hören an den Kenntnissen der theoretischen Physik, die das Lichtvollste sind, das ich in unserer heutigen Welt kenne, einschließlich der Astrophysik. Und diese Wissenschaftler sind beharrlich – seit Galileo und Kepler sind sie sich immer gleich geblieben. Das, so würde ich es sagen, ist das Poetische. Und von Novalis gibt es ein Satz, dem ich auch sehr anhänge, dass nämlich das absolut Szientifische, zugleich auch das absolut Politische ist.
Wie beeinflusst denn die Theorie der unbekannten schwarzen Materie Ihre Sternenkarte der Begriffe in der Ausstellung?
Indem wir zugeben müssen, dass wir etwas gar nicht kennen und es auch nicht auf uns reagiert. Da sind wir natürlich mit geballten Fragen versehen. Dass etwas, das so ähnlich wie der Äther beschreibbar wäre, tatsächlich Galaxien hält, so dass sie schwimmen können und nicht nur kreisen oder stehen, das ist etwas, was mich sehr befriedigt. Denn das heißt, dass da immer was Unbekanntes ist, das es zu erforschen gilt. Und das Gefühl ist für die dunkle Energie momentan noch stärker.
Haben Sie eigentlich keine Angst vor der drohenden Dekadenz in der westlichen Zivilisation – dass es uns am Ende so ergeht wie dem Römischen Reich?
Ich glaube, dass es einen Zerfall von Öffentlichkeit zu beobachten gibt, dass wir sehr harte Deformationen haben und dass wir einer Hybris unterliegen. Ich bin mir aber sicher, dass wir trotzdem auf den Satz von Walter Benjamin vertrauen können, dass es keine Verfallszeit gibt.

Zur Person:
Alexander Kluge (*1932 in Halberstadt) ist seit Beginn der 1960er Jahre als Schriftsteller und Filmemacher bekannt, etwa für „Abschied von Gestern“, für den er 1966 den Silbernen Löwen erhielt. Ab 1988 produzierte er unter dem Label DCTP Interviews mit Künstlern und Intellektuellen für verschiedene Privatsender. Seit 2000 veröffentlichte er mehrere Erzählungen, zuletzt 2015 „Kongs große Stunde“. Foto: Jens Nober
Aber entfernt der Diskurs auf hohem intellektuellem Niveau den Einzelnen nicht immer mehr von der Gesellschaft – fühlt man sich nicht irgendwann einsam?
Also Ihre Beobachtung ist sicher richtig. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Menschen sich immer helfen werden. Nehmen Sie mal eine Stadt wie Lagos. Da haben Sie keine richtige Öffentlichkeit und keine Versorgung, es ist eine Mega-Stadt, die in nichts Florenz gleicht – aber die Menschen dort finden dennoch intelligente Formen des Gemeinwesens und neue Formen des Zusammenlebens. Und die schlauen Stadtplaner rennen allem hinterher und studieren das, was die dort spontan erfinden. Das heißt, wir sollten keine wirklich begründeten Zweifel haben, dass Menschen sich letztlich nicht doch helfen.
Ihre Art, Geschichten zu erzählen, Ihre Verknüpfungen, die Assoziationen, die Sie schaffen, ist das nicht sehr, sehr ähnlich zu der Art und Weise, wie ganz früher auch Höhlenmalerei entstanden ist?
Das ist natürlich ein Kompliment, das Sie mir da machen, und ich bin sehr stolz darauf und auf mein Kunstverständnis. Sprache, Höhlenmalerei, Tanz, Musik, die Kunstformen entstehen alle vor etwa 40.000 Jahren in der Donaugegend. Gleichzeitig meine ich, diese filmischen Konstellationen, denen wir hier gerade zuschauen, die gibt es ja wirklich. Sie sprachen vorhin von Theorie, und Theorie ist etwas sehr Geheimnisvolles. In Griechenland waren die Theoretiker die Begleiter einer Delegation, vielleicht einer politischen Delegation in einer Nachbarstadt, die aufpassten, während verhandelt wird und wie verhandelt wird. Die sollten schauen, ob die anderen lügen oder nicht. Das macht und kann eben ein Theoretiker. Und diese Theorie darf sich nicht nur in Worten und Abstraktionen oder auf Podien ausdrücken. Sondern man muss im Grunde lernen, Bilder, Texte, Haltungen miteinander so zu verbinden, dass sie gesellschaftlich ein besseres Netz bilden. Theorie ist eigentlich eine Grundeigenschaft, ein Gipfel der Sinnlichkeit. Sie müssen sagen, analog zur Theorie der Haut, denn die ist zum Beispiel gegen jeden Krieg, und die kriegt dann Allergien. Dann die Theorie der Nase, des Ohres, des Auges – wir bestehen also aus einer Masse verschiedenartiger Böden für gute Theorie. Das, was Sie hier in der Ausstellung sehen, ist eigentlich in Bewegung gesetzte Theorie und natürlich im Sinne meiner großen Vorbilder und Lehrmeister Horkheimer, Adorno, Benjamin und so weiter. Ich vergleiche mich nicht mit denen, aber ich bin sozusagen als deren Hilfsgärtner emsig tätig. Und auch deren Theorie sieht eigentlich so ähnlich aus wie dieser Saal hier.
Und wie groß ist die Gefahr, dass wir uns tatsächlich noch innerhalb von Platons Höhle befinden?
Die Gefahr ist immer da. Natürlich. Aber ich bin ein konsequenter Anti-Platonist. Der sagt doch, Poetik gibt es nicht und Musik sollen wir uns abgewöhnen. Und es sollen Bauern und Philosophen, also Nährstand und Lehrstand zusammenwachsen zum Wehrstand. Ich halte das für idiotisch.
Alexander Kluge. Pluriversum | bis 7.1.2018 | Museum Folkwang Essen | mit Veranstaltungsprogramm | Eintritt frei
INTERVIEW:
PETER ORTMANN