Schreckensfratzen der Hölle

„Groß und klein“ Foto: David Baltzer

Schreckensfratzen der Hölle

„Groß und klein“ am Schauspiel Köln

Die 70er waren die Jahre des Betons. Innerlich wie äußerlich. Nie ging es den Deutschen besser, nie waren sie kälter – meinte der Dramatiker Botho Strauß. In seinem Stück „Groß und klein“ macht sich die große selbstlose Liebesleiderin Lotte auf die Suche nach dem großen Wir und trifft nur auf Entfremdete. Die Lotte (Sabine Orléans) im Kölner Schauspiel ist allerdings eher ein Vitalitätsbolzen, die im marokkanischen Feriendomizil mit Inbrunst einen Dialog zweier Männer belauscht und sich immer knapp am Tassenrand der Contenance bewegt. Wie überhaupt in Lilja Rupprechts Inszenierung viele Figuren am Rande des Nervenzusammenbruchs agieren. Da rastet eine Ehefrau völlig aus, als sie entdeckt, dass ihr Mann sie die ganze Nacht beobachtet hat. Eine junge Wissenschaftlerin macht ihrem Freund eine wilde Szene, weil er ihre Liebe für seine Karriere ausbeutet.

Die junge Regisseurin spannt vor der Straßenfassade mit hohlen Fensteröffnungen (Bühnenbild: Anne Ehrlich) allerdings einen weit größeren Referenzrahmen auf. Ihre Heldin ist eine Art Idiotin im dostojewskischen Sinne, eine Fürstin Myschkina, die gutgläubig durch die Republik gondelt und auf ein Pandämonium trifft: ihre Familie, in der sich die Altersstufen verkehrt haben und Exhibitionismus am Kaffeetisch alltäglich ist. Ihr früherer Geliebter Paul, der als Hypermotoriker seinen Stillstand beklagt. Zugleich betont Rupprecht Lottes religiöse Selbstbeschreibung, sie sei eine der 36 Gerechten. Faszinierend die Szene „Stationen“ in der Lotte sich durch eine Gegensprechanlage klingelt. Zu einer Stimmenkakophonie gesellen sich ein Paar mit Totenmasken, und schließlich überzieht sich die Wand mit Schreckensfratzen à la Hieronymus Bosch. Lottes Gottes-Dialog „Falsch verbunden“ spricht deshalb weniger von emotionaler Kälte, als einer metaphysischen Orientierungslosigkeit, die einhergeht mit der Implosion der sprachlichen Bedeutungssysteme. Weshalb Sprache und Hören, das macht Rupprecht immer wieder deutlich, weit mehr bedeuten als nur Kommunikation.

So müsste man noch vieles erwähnen: Das gute Ensemble, den klugen Einsatz von Live-Kamera und Musik. Diese assoziationsreiche Inszenierung gehört zum Besten, was das Schauspiel Köln seit langem auf die Bühne gebracht hat.

„Groß und klein“ | R: Lilja Rupprecht | Schauspiel Köln | Sa 5.11., Do 24.11. 19.30 Uhr , So 27.11. 16 Uhr | 0221 22 12 84 00

Autor

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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