„Schluss mit dem menschenzentrierten Theater!“
Regisseur Frederik Werth inszeniert „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“
Frederik Werth und ich sind zum Zoom-Interview verabredet. Er wird am Freien Werkstatt Theater Alexander Eisenachs Antikenüberschreibung „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“ inszenieren. Doch anstatt vor einer gewöhnlichen Wohnungsausstattung, sitzt der junge Regisseur und Videokünstler in einem virtuellen Biotop aus grünen und violetten Farbschlieren mit handgroßen Insekten. Es blubbert, fließt, kriecht und krabbelt, so dass Frederik Werth längst nicht das einzige belebte Objekt im Bild ist.
choices: Herr Werth, was kriecht denn bei Ihnen durch die Wohnung?
Frederik Werth: Das sind Ameisen aus dem Grüngürtel, die einen Pfirsich essen. Das habe ich gemischt mit Aufnahmen eines kaputten Laptopbildschirms. Das, was so psychedelisch aussieht, sind kaputte LED-Elemente.
Sie sind Regisseur, Video- und Klangkünstler. Werden Video und Sounds auch in Ihrer Inszenierung von „Anthropos, Tyrann“ eine Rolle spielen?
Da werden wir nicht umhinkommen. Wir leben in einer wahnsinnig technologischen Zeit, das hat sich durch Corona noch verstärkt. Und Technik spielt auch im Umgang mit dem Klimawandel eine Rolle. Der Ressourcenverbrauch unserer technischen Infrastruktur ist unfassbar. Und da stellt sich die Frage: Wofür setzen wir diese Technik ein? Deswegen finde ich es wahnsinnig interessant, Theatertechnik als gleichberechtigten Mitspieler einzusetzen.

ZUR PERSON: Frederik Werth war zunächst am Theater Bonn als Regieassistent beschäftigt. Hier übernahm er die Regie bei den Produktionen „Eure Ordnung ist auf Sand gebaut“ und „Die Nase“. Zuletzt realisierte er die Grüngürtel-Performance „Biotopia. Ein Myzel“ mit dem Theater am Bauturm. Zugleich arbeitet Frederik Werth als Videokünstler. Foto: Saurbier
Erklären Sie doch bitte kurz den Titel des Abends „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“. Was bedeutet das?
Der Titel ist eine Umkehrung von Sophokles Stück „Ödipus (Tyrann)“, indem dann noch das Wort „Anthropos“,das Mensch bedeutet, davorgesetzt ist. In „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“ also wird betont, dass mit Ödipus nicht ein individuelles Schicksal psychologisch nachvollziehbar gemacht wird, sondern letztlich die Tragödie des Menschseins insgesamt auf die Bühne kommt. Was ist schiefgelaufen in den letzten paar hundert Jahren?
Was macht uns Menschen zu Tyrannen?
Schon der Philosoph Thomas Hobbes hat sehr klar formuliert: Der Mensch ist die Krone der Schöpfung und muss Ordnung in das chaotische System um uns herumbringen. Davon lässt sich eine gerade Linie über den Imperialismus, die Erfindung der Mikrowelle bis zu Elon Musks Plan, den Mars zu besiedeln, ziehen. Wenn der Mensch also das einzig lenkende und steuernde Element dieser sehr komplexen Biosphäre ist, dann gibt es weder ein Erkennen noch ein Anerkennen anderer Dinge, anderer Lebensformen, anderer Weltbilder, anderer Menschengruppen. Unsere Umwelt wird in unserer Beschreibung zu unbelebter Natur, die nur dazu da ist, uns Rohstoffe zu liefern, um irgendwie Wachstum zu erzeugen. Diese Denk- und Herangehensweiseistper se erst mal eine tyrannische.
Wie verwebt Alexander Eisenach diese Erkenntnis mit der Geschichte von Ödipus?
Das Stück von Alexander Eisenach ist als Tragödie im antiken Sinne angelegt. Es geht weniger um das persönliche Schicksal von Ödipus. Ödipus steht also stellvertretend für die Strukturen, in denen wir denken. Er wehrt sich gegen das göttliche Schicksal, lädt als Mensch an sich über Generationen wahnsinnig viel Schuld auf sich, um dann eine Katharsis zu erleben: Er blendet sich und beraubt sich dadurch im wahrsten Sinne seines bisherigen Weltbildes.
Wir Menschen stehen also im Moment da, wo Ödipus stand, als er kapiert hat, dass er seinen Vater erschlagen hat und mit seiner Mutter geschlafen hat, also schuldig ist?
Genau. Wir haben uns noch nicht geblendet und vermutlich wird das auch noch dauern. Das ist natürlich ein schmerzhafter Prozess. Trotzdem werden wir vermutlich nicht darum herumkommen. Das Problem ist, und das hat die Klimakonferenz in Glasgow gezeigt, dass wir immer noch nicht in der komplexen Anerkennung der Dinge denken, sondern in der Machbarkeit innerhalb unserer Strukturen. Also, dass wir zum Beispiel grünes Wachstum für unendlich halten. Die Maßnahmen, die getroffen werden sollten, müssen aber wirklich rigoros sein. Die Zeit ist vorbei, in der wir durch Verhaltensänderung im Konsum irgendetwas erreichen können.
Wie bekommt man diese Erkenntnis bühnentauglich? Sie haben vorhin davon gesprochen, Theatertechnik als Mitspieler einzusetzen.
Sinnliche Erfahrbarkeit heißt, man muss irgendwie eine Welt auf der Bühne schaffen, in der di eDinge auch genauso agieren wie die Schauspieler. Es geht darum, einen Kosmos zu schaffen, in dem die Zuschauer angehaltensind, automatisch einen Perspektivwechsel weg vom menschenzentrierten Theater zuvollziehen. Einerseits werden wir die Komplexität von Ökosystemen durch eine Gleichzeitigkeit der Performance sinnlich erfahrbar machen. Wir wollen die Bühne dezentralisieren und noch ganz andere Orte einbeziehen. Andererseits wollen wir den Schauspielerinnen und Schauspielern belebte Dinge an die Seite stellen, die ihrerseits den Abend mitperformen. Also, dass beispielsweise Bühnenelemente den Rhythmus bestimmen, dass mikrofonierte Gegenstände den Soundcheck erstellen, wir werden Dinge wachsen lassen usw. Das soll einen Perspektivwechsel ermöglichen.
Nun gibt es im Stück eine Figur namens Pythia, die nicht ganz so optimistisch ist, dass das alles noch gutgeht.
Alexander Eisenach hat in seinem Text die antike Pythia geschickt verwoben mit der renommierten Erdsystem-Forscherin und Meeresbiologin Antje Boetius. Die Wissenschaft ist ja eine der wenigen Positionen, die das, was wir derzeit erleben, relativ glaubhaft seit Jahrzehnten voraus gesagt hat. Pythia ist bei Alexander Eisenach also ebenfalls ein Orakel, das nun aber weissagt, dass es eigentlich schon zu spät sei. Das ist die sehr traurige Erkenntnis des Stücks: Die Denkstrukturen, in denen wir denken, reichen nicht mehr aus, um dem Herr zu werden, was uns erwartet. Der spannende Twist besteht darin, dass ausgerechnet die Wissenschaft als Ausgeburt unseres aufklärerischen Denkens auf den Trichter gekommen ist, dass alles aus dem Ruder läuft. Und deswegen finde ich dieses Stück total toll: Einerseits nutzt Alexander Eisenach die griechische Tragödie, andererseits fließen immer wieder heutige wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein und verweben sich mit dem antiken Text. Viel mehr Theater geht nicht.
Anthropos, Tyrann (Ödipus) | R: Frederik Werth | 20., 22., 23.1. und 2., 3.2. | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17