„Mit den Nachfahren der Kolonisierten zusammenarbeiten“
Museumsdirektorin Nanette Snoep über Raubkunst und die Aufgaben der Museen
choices: Frau Snoep, wie lange müssen Afrikaner noch tausende Kilometer weit reisen, um viele Kunst- und Kulturwerke aus ihrem eigenen Land zu sehen?
Nanette Snoep: Das ist eine sehr gute Frage – nicht nur an mich. Die Debatten um geraubte Kulturgüter aus dem globalen Süden laufen schon seit fast 20 Jahren. In den letzten Jahren hat sich das beschleunigt, insbesondere seit der französische Staatspräsident Emmanuel Macron 2017 in der Hauptstadt von Burkina Faso offiziell angekündigt hat, dass die geraubten Kulturgüter Afrikas, die sich in französischen Sammlungen befinden, zurückgegeben werden. In Deutschland haben sich innerhalb der letzten Jahre fast alle Museen mit geraubten Kulturgütern aus dem Königreich Benin, das im heutigen Nigeria liegt, mit sehr viel Energie mit deren möglicher Rückgabe beschäftigt. In Deutschland befindet sich die zweitgrößte Sammlung von Kulturgütern aus dem Königreich Benin, weil Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts viele von diesen Kunstwerken in England von wohlhabenden Privatpersonen und Museen angekauft werden konnten. Britische Soldaten haben im Februar 1897 den gesamten Königspalast niedergebrannt und tausende von für das Königreich essentiellen historischen Kunstwerken nach England verschleppt. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Deutschland und auch andere Länder mit einer langen Kolonialgeschichte wie die Niederlande oder Frankreich betrachten heute die Auseinandersetzung mit der Rückgabe von geraubten Kulturgütern als wichtige Aufgabe der Museen. Ich glaube, wir stehen zwar noch am Anfang, aber es wird dennoch immer konkreter.

Zur Person:
Nanette Snoep
geb. in Utrecht, studierte Kulturelle Anthropologie an der L’École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Von 2004 bis 2014 hatte sie einen Lehrstuhl an der École du Louvre in Paris und an der Université Paris Nanterre zu Afrikanischer Kunstgeschichte. Bis 2015 war sie dazu am Pariser Musée du quai Branly als Leiterin der historischen Sammlung tätig und hat in Frankreich zahlreiche Ausstellungen kuratiert. Seit 2019 ist sie Direktorin des Rautenstrauch-Joest-Museum Kulturen der Welt in Köln. Foto: Francis Oghuma
„Eine unglaubliche Chance, diese Museen neu zu denken“
Echter Postkolonialismus – würde das auch heißen, dass einst von den Europäern gezogene Grenzen auf dem afrikanischen Kontinent neu bewertet werden müssen?
Die bis heute bestehenden Grenzen sind direkte Auswirkungen des Kolonialismus. Bei der Konferenz von Berlin 1884/85 wurdevon den europäischen Kolonialherrschern keinerlei Rücksicht auf die bestehenden Grenzen der afrikanischen Länder und Königreiche und die dort lebende Menschen genommen. Der afrikanische Kontinent wurde unter den Kolonialherrschern wie ein Kuchen aufgeteilt, und die afrikanischen Länder mussten sich an diese Grenzen anpassen. Aber wir können leider nicht einfach ins Jahr 1885 zurückkehren und diese willkürlichen Grenzziehungen rückgängig machen. Die Grenzen sind da und das ist heute Realität. Wir dürfen aber nichtvergessen, dass diese Grenzen Folge der Kolonialgewalt sind. Vor diesem historischen Hintergrund der Grenzziehungen ist es auch wichtig, innerhalb der in der Debatte über geraubte Kulturgüter daran zu denken, dass man bei ehemaligen afrikanischen Königreichen durchaus oft mit mehreren afrikanischen Ländern in Kontakt treten muss. Die Grenzen sind da und das ist eine heutige Realität.
„Diese Museen haben nur dann eine Zukunft, wenn sie sich kritisch mit ihrer Geschichte auseinandersetzen“
Gibt es eine Zukunft für ethnologische Museen in Europa?
Ja, ich glaube, es gibt eine wichtige Zukunft für diese Museen. Seitdem so viel über geraubte Kulturgüter gesprochen wird und über Aufarbeitung des Kolonialismus, haben die ethnologischen Museen eine neue Relevanz gewonnen. Denn sie reden heute über die Auswirkungen des Kolonialismus, über den Mord an George Floyd oder die Zerstörung von kolonialen Denkmälern. Diese Aufarbeitung fängt erst an und ich glaube, es ist die Aufgabe von ethnologischen Museen sich damit auseinanderzusetzen und auch auf andere Art und Weise mit der Diaspora, den Nachfahren der Kolonisierten, der Hersteller und ersten Besitzer der Objekte der Museumssammlungen, die hier in Europa, in Deutschland, in Köln leben, zusammenzuarbeiten. Diese Museen dürfen bei ihrem Programm undihrer Strategie nicht mehr weiter ausschließlich weiße Europäer*innen vor Augen haben. Sie sind auch für die Diaspora da und müssen sich verändern, um sie wirklich einzuladen und zu erreichen. Es ist eine unglaubliche Chance, diese Museen neu zu denken. Sie haben, Millionen Objekte und können so viel über Weltgeschichte erzählen, über vorkoloniale Geschichte, Kolonialgeschichte, moderne Geschichte, den globalen Süden, globale Krisen, die Klimakrise oder über Gender, über Gerechtigkeit, Feminismus oder Frauenrechte in der Welt. Diese Museen haben aber nur dann eine Zukunft, wenn sie sich kritisch mit ihrer eigenen Geschichte und der eigenen Rolle in dieser Kolonialgeschichte auseinandersetzen.
„Wir möchten gemeinsam mit der Diaspora und der Stadtgesellschaft Alternativen entwickeln“
Dann ist die Art und Weise, wie das Humboldt Forum in Berlin mit Restitutionsforderungen umgeht nicht zeitgemäß, oder? Sie haben nichts zurückgegeben und zeigen auch das Lufboot aus Papua-Neuguinea noch.
Das Humboldt Forum ist ein lange vorbereitetes Projekt in der Hauptstadt Berlin, mit einer komplexen Struktur vielen problematischen Themenkomplexen. Schon die Architektur, die Geschichte des wiederaufgebauten Schlosses sind bereits höchst kontrovers. Aber hier in Köln haben wir andere Bedingungen als die Bundeshauptstadt und wir machen kein zweites Humboldt Forum. Die Zusammenarbeit mit der Diaspora, die in der aktiven und weltoffenen Stadt Köln lebt, ist für uns extrem wichtig, unglaublich interessant und auch notwendig.Wir möchten gemeinsam mit der Diaspora und der Stadtgesellschaft Alternativen entwickelnwie das Rautenstrauch-Joest-Museum neu gestaltet und weiterentwickelt werden kann. Denn es gibt mittlerweile neue Themen, neue Bedürfnisse auch von Jugendlichen, die ein total anderes Verhältnis haben zur Kolonialgeschichte, so dass auch wir unsere Themen schrittweise schon verändert haben und weiter anpassen müssen.
Ende April eröffnet das Museum die neue Ausstellung „I MISS YOU! – Über das Vermissen, Zurückgeben und Erinnern“, die von Trauer und Restitutionsforderungen gleichermaßen erzählt. Auch von den betroffenen Menschen?
Genau. Diese Ausstellung fragt, was das eigentlich bedeutet, wenn Menschen und Gesellschaften ihrer identitätsstiftenden historischen Kulturgüter beraubt werden, insbesondere auch welche transgenerationellen, emotionalen Folgen das bedeutet. Wir möchten einen Raum für gebrochene Erinnerungen, Melancholie und Trauer geben. Denn das passierte mit der Sammlung aus dem Königreich Benin. Köln bewahrt mit 96 Werken die viertgrößte Sammlung in Deutschland. In der Dauerausstellung wurden jedoch in den vergangenen Jahrzehnten nur drei davon gezeigt. Alle anderen 93 waren in den Museumsdepot. Wir haben schon im Rahmen der Sonderausstellung „RESIST! Die Kunst des Widerstands.“ (1.4.21 – 9.1.2022) die 96 Hofkunstwerke aus dem Königreich Benin gezeigt, aber „I MISS YOU!“ ist eher eine emotionale Ausstellung, die sich mit dem Vermissen und Verabschieden auseinandersetzt, und was dies für die Nigerianer*innen bedeutet. Wir versuchen durch eine schöne, poetische und feierliche Inszenierung der Werke auf eine emphatische Weise bei den Besucher*innen ein größeres Verständnis für die Rückgabedebatten zu erlangen und fragen nach den emotionalen realen Geschichten und Schicksalen, die hinter den Restitutionsdebatten stecken.
KOLONIALWAREN – Aktiv im Thema
africavenir.org/de | Die in Kamerun ansässige NGO AfricAvenir unterhält u.a. ein Büro in Berlin. Der Onlineauftritt informiert auch über ihre Aktivitäten zu geraubter Kunst.
kulturrat.de | Dossier des Deutschen Kulturrates über „Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“
kulturgutverluste.de | Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste fördert die Suche nach sog. NS-Raubgut.
INTERVIEW:
PETER ORTMANN