„Man kann weniger davonlaufen“
Die Leitung des blicke filmfestivals über die diesjährige Filmauswahl
trailer: Im November fand das 28. blicke – Filmfestival des Ruhrgebiets statt. Den ersten Hauptpreis in der Kategorie ein-blicke hat der Film „Dunkelfeld“ von Ole-Kristian Heyer, Patrick Lohse und Marian Mayland gewonnen. Er erzählt vom Brandanschlag auf ein Duisburger Wohnhaus im Jahr 1984, bei dem sieben türkischstämmige Menschen getötet wurden. Was ist das Besondere und das Berührende an diesem Film?
Felix Hasebrink: Für mich ist das Interessante zum einen das Thema, also ein praktisch heute vergessener oder kaum noch erwähnter Brandanschlag in Duisburg, der eigentlich lange zurück liegt, aber jetzt von den Filmemachern nochmal aufgearbeitet wird. Zum anderen ist die Art und Weise wie der Film gestaltet ist sehr ungewöhnlich. Wir sehen gerade keine klassischen Interviewszenen, wir sehen auch keine nachgestellten Szenen, sondern wir sehen im Wesentlichen ein Archivmaterial aus der Zeit, kombiniert mit einem mehrsprachigen Voiceover. Der Film spielt im Wesentlichen in einem leeren Raum. Das Archivmaterial wird auf einem Monitor abgespielt. Filmequipment ist zu sehen; leere Stühle verweisen darauf, dass es hier um Abwesenheit geht: Die Betroffenen dieses Anschlags sind in der medialen Öffentlichkeit häufig unsichtbar, werden nicht repräsentiert, erhalten keine eigene Stimme. Das zeigt der Film sehr eindrücklich.

Zur Person:
Gabi Hinderberger ist Mitbegründerin des blicke filmfestivals und hat bis 2020 dessen Leitung inne. Seit 2012 ist sie Leiterin der Kinder- und Jugend-blicke. 1989 gründete sie das Bochumer Videomagazin „Die Aktuelle Monatsschau“. Foto: Ansgar Dlugos
„Es kann nicht so getan werden, als ob Rassismus nur ein Thema in den USA sei“
Gabi Hinderberger:Ich sehe das wie Felix. Was ich an dem Film noch wichtig finde ist, dass nicht so getan werden kann, als ob Rassismus nur ein Thema in den USA oder von wo auch immer sei, sondern dass das hier ein unaufgearbeitetes Thema ist und ich finde es super, dass dieser Film zu diesem Thema entstanden ist.
Auch der zweite Gewinnerfilm der ein-blicke, „Glückauf“ von Fumiko Kikuchi untersucht die Vergangenheit, diesmal die der eigenen Familie. Wie erklärt ihr euch, dass viele Filmemacher*innen nun gewissermaßen den Blick zurück wagen?
GH: Für mich ist „Glückauf“ nicht nur ein Blick in die Vergangenheit. Klar, Fumiko Kikuchi ist auf das Thema gekommen, weil ihr Großvater im Bergbau gearbeitet hat, aber ich glaube wirklich umsetzen wollte sie den Film, weil sie selber in einer Migrationssituation ist. Und das finde ich an dem Film faszinierend, dass sie es geschafft hat, diese Geschichten von den Bergarbeitern hier im Ruhrgebiet mit ihrer eigenen Situation zu verknüpfen. In gewisser Weise hat sie auch einen kritischen Humor, wenn sie zum Beispiel den Begriff „Gastarbeiter“ auf die Schippe nimmt.
„Ich muss gestehen, dass ich zuerst einigermaßen ratlos war“

Zur Person: Felix Hasebrink arbeitet seit 2014 in der Sichtungskommission und der Festivalorganisation des blicke filmfestivals. Ab 2021 übernimmt er gemeinsam mit Alisa Berezovskaya und Katharina Schröder die Festivalleitung. Seit 2017 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität. Foto: Ansgar Dlugos
FH: Es ist ein erkennbarer Trend, dass junge Filmemacher*innen sich fragen, wie man mit den Bildarchiven umgehen kann, die heute entstehen. Es gibt heute unglaublich viel audiovisuelles Material, das auf einmal wieder verfügbar wird, was ja auch beide Filme nutzen. Es stellt sich mehr und mehr die Frage, wie man eigentlich mit diesem Material kreativ umgehen kann, wie man dieses Material auf die Situation von heute beziehen kann. Das kommt in Glückauf sehr gut zum Ausdruck.
Eine ganz eigene, ja eigenwillige Welt hat Katharina Huber in ihrem Film „Der natürliche Tod der Maus“ erschaffen. Was macht diese Welt einer Frau der sogenannten Generation Y aus?
G: Ich muss zugeben, dass ich zuerst einigermaßen ratlos war. Der Film zeigt ganz offensichtlich die Lebensumstände einer jüngeren Generation, nicht meiner eigenen. Gleichzeitig war ich fasziniert von den vielen kleinen verschachtelten Geschichten, den visuellen Ideen und der raffinierten technischen Umsetzung.
„Wie kann ich eigentlich ein ethisch vertretbares Leben führen?“
FH: Wir hatten bei der Sichtung den Eindruck, dass der Film versucht, ein bestimmtes Lebensgefühl einzufangen, das vielleicht unsere Generation ganz besonders repräsentiert. Der Film bringt immer wieder gut auf den Punkt, wie schwierig es eigentlich heute ist, ein guter Mensch zu sein. Wie kann ich eigentlich ein ethisch vertretbares Leben führen? Ist das schon, wenn ich eine Biobanane im Supermarkt kaufe? Sind es letztendlich nur Konsumentscheidungen, die ich treffen muss? Mache ich damit irgendetwas besser? Wie soll ich mir das überhaupt leisten, wenn ich unter prekären Verhältnissen in der Dienstleitungs- oder Kreativwirtschaft arbeite? Ich glaube, dass unsere Generation unter den Vorzeichen drohender ökologischer und ökonomischer Katastrophen aufgewachsen ist. Wir sind alle mit dem Bewusstsein sozialisiert, dass es in der Zukunft mal so richtig schlimm werden wird und haben aber das Gefühl, nur bestimmte Handlungsspielräume zu haben.
„Filmen, die ein bisschen sperriger sind, eine Plattform geben“
GH: Wir haben jetzt mehrere Kommentare bekommen, dass das Programm sehr viele politische Frage aufgreift und ich sehe das auch so und auch vermehrt, als in den Jahren zuvor. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass die gesamte globalisierte Problematik auf einen einstürzt und man weniger davonlaufen kann, sondern sich damit befasst was hier eigentlich los ist.

Nur wenige Filme in eurer Auswahl nutzen ganz klassische filmische Erzähltechniken. Viele Filmemacher*innen brechen die Sehgewohnheiten des Publikums. Welchen Platz nimmt der künstlerische Film aktuell in der deutschen Filmwelt ein?
FH: Eine große, schwierige Frage. Natürlich einen zu geringen Platz. Ich glaube, dass viele, die künstlerische Filme und Filmfestivals machen, ihre Arbeit als Alternative zum Fernsehen oder zur kommerziellen Kinowirtschaft begreifen. Dort gibt es nach wie vor bestimmte Formatideen, Standards, Vorgaben, wie ein Film zu sein hat, damit er leicht zugänglich ist und er von einer möglichst breiten Masse gesehen werden kann. Und natürlich verstehen wir unsere Aufgabe auch ein Stückweit darin, den Filmen, die ein bisschen sperriger sind, ihr Publikum herausfordern und mit ungewohnten Ausdrucksweisen konfrontieren, trotzdem eine Plattform zu geben.
„Wir wollen blicke international öffnen“
Felix, du übernimmst im kommenden Jahr gemeinsam mit Alissa Berezovskaya und Katharina Schröder die Leitung des blicke-Filmfestivals. Was wird sich ändern, was wird bleiben?
FH: Wir planen natürlich weiterhin mit einer Festivalausgabe im November 2021 hier im endstation-Kino. Darüber hinaus gibt es Dinge die wir intensivieren und ausbauen wollen, wie die Programmsparte Spot-On, in der wir dieses Jahr Kurator*innen vom Dokumentarfilmfestival Sheffield Doc/Fest eingeladen hätten. Wir wollen blicke international öffnen, was es durchaus auch schon mal gab, die europa-blicke nämlich. Wir möchten also auch durchaus Sachen, die schon mal beim Festival gelaufen sind wieder probieren. Eine andere Idee ist nochmal in das eigene blicke-Archiv abzutauchen und zu schauen was blicke eigentlich in früheren Festivalausgaben gezeigt hat. Wir haben riesige Schränke auf dem Dachboden des Bahnhof Langendreer, in denen alte Bänder mit ganz obskuren Videoformaten gestapelt sind. Eine Aufgabe für uns wird es sein, diesen Bestand zu ordnen, zu sichten und zu sehen, ob man davon nochmal etwas verfügbar macht.
Interview:
ELENA UBRIG