Leise kriecht die Furcht ins Leben
Elias Canettis „Die Befristeten“ in Bochum
Die Bühne ist noch leerer als der Zuschauerraum. Eine Lichtinstallation erzeugt künstlerisches Flair. Endlich wieder ins Theater statt in einen Baumarkt, denke ich noch und suche meine Reihe 10, die irgendwie abgebaut zu sein scheint. Ausgerechnet mit „Die Befristeten“ von Elias Canetti durchbricht Intendant Johan Simons den Bühnen-Shutdown im großen Haus des Bochumer Schauspiels. Eine Dystopie über den Tod und wie er doch mehr Einfluss auf unser Handeln hat, als viele glauben. Lässt das Wissen um den eigenen Todeszeitpunkt tatsächlich eine Gesellschaft friedlicher werden?
Die Inszenierung zeigt erst einmal die performative Bühnenmechanik, die als dramatischer, sprachloser Bewegungsapparat fast schwerelos permanent Dimensionen verändert und den Raum vielleicht in eine nebelige Zukunft katapultiert, Bühnenzüge schwingen, das Windrad bläst. Ein bisschen ist es auch dicke Hose eines Stadttheaters und was uns allen weggenommen wurde, befristet halt. Dann endlich kommen die Schauspieler aus dem imaginären Virtuellen auf die wahre Bühne zurück.Auftritt des tänzelnden Kapselans (Jing Xiang), ein Meister der Täuschung, der Herr der Kapseln, die alle Menschen um ihren Hals hängen müssen, und der Geburts- und Todesstunde dokumentieren soll. Und nur er als Despot hat das Recht, diese Fakten zu prüfen. „Wir sind dankbar, wir haben keine Angst“, rufen die sechs Bürger aus den Eingangstüren des Zuschauersaals. Simons inszeniert die Corona-Auflagen geschickt mit. Statt menschlicher Nähe fliehen die Spieler einander, bleiben weiter entfernt als nötig. Ab und an messen sie mit langen Messstäben die Abstände nach. Es entwickelt sich eine Verhandlung der Augenblicke, die das Leben an sich strukturieren. Keiner in dieser scheinbar gewaltfreien Welt (wie in „Flucht ins 23. Jahrhundert“, USA 1976) hat noch einen Namen, alle tragen als Bezeichnung ihre Lebensdauer, aber niemand sagt sein wahres Alter, früher Tod und verschwundene Menschen werden hingenommen. Der Kapselan hat alles im Griff. Noch.
Die Choreografie der Regie für die Personen ist enorm, erfordert viel Laufbereitschaft quer durch das Haus und alles für das halbe Hundert Zuschauer im Saal, die mit ihren Mund- und Nasenmasken viel zum dystopischen Gesamtkunstwerk beitragen, das ab und an wohl mehr Performance sein will zwischen ausgestopftem Schäferhund und Klaus Nomi-Gesangs-Attitüde. Toll scheint es dennoch nicht zu sein im Kapselstaat. Es kommt, was immer kommen muss in totalitären Systemen, einer, hier ist es der ältere „Fünfzig“ (Stefan Hunstein), negiert den Kontrakt zwischen Regierung und Bevölkerung, verliert aus Angst vor der ablaufenden Zeit den Glauben an die Wahrheit in der Kapsel und wird nun zum Virus der Freiheit, der das System in Brand steckt und zum Einsturz bringt. Ist Freiheit wirklich das Einzige, was zählt? Auch „Fünfzig“ scheint sich nicht sicher, er will nur länger leben, den Zeitpunkt nicht kennen. Die Dramaturgie franselt nun etwas aus. „Fünfzig“ lästert, er frevelt, stellt die Ordnung infrage, wird als Mörder tituliert. Doch der Funke ist gezündet, Kürzer-Lebende wenden sich gegen privilegierte Länger-Lebende, Mord und Gefahr werden wieder in die Gesellschaft einziehen. Den Privilegierten wird das egal sein. Uns bleibt die Gedankenarbeit für einen Ausweg.
„Die Befristeten“ | R: Johan Simons | Spielplan 2020/21 bei Red.schluss unklar | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
Autor
PETER ORTMANN