Kulturschaffende der letzten Tage
„Evolution“ auf der Ruhrtriennale
Ein dunkler Bunker, verschmierte Duschen an der Wand, Gitterroste auf dem Boden. Chorische Wellen von György Ligetis düsterem „Requiem“ wehen vorbei, machen den Beginn von Kornél Mundruczós Musiktheater-Kreation „Evolution“, in der Bochumer Jahrhunderthalle zu einer Zerreißprobe für die Seele. Drei Männer mit Eimern und Schrubbern betreten den Raum durch eine lichtdurchflutete Eisentür, beginnen mit der Reinigung. Hier ist Ungeheuerliches passiert, das ist klar, und die Minuten zerren an der Wahrnehmung, als mit einem Crescendo einer der Männer Haare aus einem Abfluss zerrt. Ein schier endloses Bündel, das eine bedrückende Komik erzeugt, der einige Zuschauer erliegen.
Doch schnell obsiegt die düstere Atmosphäre aus dem undefinierten Grauen auf der Bühne und den Ligeti-Toncollagen der Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Steven Sloane und dem grandiosen lettischen Nationalchor, der von Maris Sirmais geleitetet wird. Dann mischt sich Babygeschrei in die schweißtreibende Reinigung, die Männer finden unter dem Rost ein Kleinkind, während Wasser in die Duschen strömt, viel Wasser sturzbachartig. Der Reinigungstrupp geht langsam ab – mit Kind.
Der dunkle Kasten fährt auseinander und gibt den Blick frei in eine einfache Wohnung, wo gerade die Tochter Léna (Annamária Láng) erscheint, um mit ihrer Mutter Éva (Lili Monori) zu einer Preisverleihung zu gehen. Doch der Schaden, den der Holocaust unsichtbar angerichtet hat, durchpflügt beide Generationen bis in den tiefsten Boden. Hat Gott jedem in der Gaskammer die Hand gehalten? Kata Wébers Dialoge offenbaren das bittere Leben im Nachkriegs-Ungarn, trotz der Rettung, und die Konflikte, die immer und immer wieder hochgespült werden. Mundruczó arbeitet hier mit Video-Nahportraits und wechselnden Kamerablickwinkeln, wie schon im ersten Teil müssen auch hier viele Bilder vom Zuschauer lange ausgehalten werden, die Übertitelung stört nicht.
Und wieder beendet die stürzende Sintflut die Szenerie. Wasser strömt aus allen Gerätschaften, macht aus dem Bühnenbild eine Installation, eine Performance der Zerstörung, die den dritten Teil, die Jetztzeit nur physisch reinigt, Jonas, Lénas Sohn im digitalen Chatroom mit seinen Schulfreunden, der Antisemitismus hat längst die Kurzmitteilungen geflutet, eine Laserinstallation verdichtet den Raum. Am Ende bleibt still eine blaue Kugel zurück, auf der die Wolken ziehen, doch auch ihr Licht verlöscht, die Ergriffenheit bleibt.
Was bleibt vom diesjährigen Festival an den letzten Tagen übrig? Noch stehen die Kunst-Installationen. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Matthäus 7,16) heißt es so schön in der Bibel. Verpassen Sie nicht Tony Cokes in der Zollverein-Mischanlage, besuchen sie noch einmal den Third Space-Flieger oder kämpfen sie für eine Karte für „Chapter 3“ von L-E-V, der Kompagnie von Sharon Eyal, gefeierte Tänzerin und Choreographin der renommierten Batsheva Dance Company und Gai Behar, der in Tel Aviv Raves und Kunst-Events produzierte. Noch geht was.
„Chapter 3“ | 26. – 29.9. je 20 Uhr | Jahrhunderthalle Bochum | 0221 28 02 10
Autor
PETER ORTMANN