Künstlerischer Reigen von dokumentarischem Wert

Mit stummem Blick auf „Abwege“, Foto: Förderverein Filmkultur Bonn e.V.

Künstlerischer Reigen von dokumentarischem Wert

Internationale Stummfilmtage zeigen überraschend moderne Werke

„In der Bevölkerung herrschen die drei epochalen Grunderfahrungen vor: Verlustgefühl, drohende soziale Deklassierung und eine Stimmung zwischen Revolutionsgeist und Erregungskultur.“ Das Wikipedia-Zitat bezieht sich auf die Reaktion der (österreichischen) Bevölkerung gegenüber einer religiösen Minderheit. Doch der Hintergrund ist nicht die aktuelle Flüchtlingskrise, der Text beschreibt die Prämisse für den Film „Eine Stadt ohne Juden“ aus dem Jahr 1924, Hans Karl Breslauers Verfilmung des gleichnamigen Romans, den Hugo Bettauer als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus in Wien 1922 veröffentlichte. Die mit Hilfe von Crowdfunding realisierte Restaurierung feierte in diesem Jahr ihre Weltpremiere. Die Internationalen Stummfilmtage in Bonn zeigen sie im August im Rahmen ihres Programms, das unter dem Motto „Wallfahrt oder Teufelspakt“ steht.

Das ist nicht der einzige Bezugspunkt zu unserer Gegenwart, der von einem Festival ausgeht, das ausschließlich Filme zeigt, die um die 100 Jahre alt sind. Hier muss man wie zurzeit beim Weltgeschehen ernüchtert feststellen: Was wir Fortschritt nennen, ist in manchen Punkten eher ein Foxtrott oder ein Tanz zwei Schritte vor, einer zurück. Gut – der technische Fortschritt lässt die Filme oberflächlich betrachtet meist so alt aussehen, wie sie sind. Über gedankliche Klugheit, künstlerischen Wagemut und gesellschaftliche Progressivität der Filme kann man aber immer wieder staunen. Vom 16. bis 26. August präsentiert der Förderverein Filmkultur e.V. im Rahmen des Bonner Sommerfestivals die 34. Ausgabe der Internationalen Stummfilmtage Bonn. Das größte deutsche Stummfilmfestival zeigt unter der künstlerischen Leitung von Kurator Stefan Dößler, Leiter des Filmmuseums München, im Innenhof der Universität zu Bonn über 20 Filme, darunter 15 Erstaufführungen neu restaurierter Stummfilme. Und das alles wie immer bei freiem Eintritt, mit live-musikalischer Begleitung, teils mit modernen, neuen Kompositionen beziehungsweise Improvisationen.

Im Programm finden sich Klassiker und neu gehobenen Schätze, gibt es ein Wiedersehen mit Stars wie Charlie Chaplin, Laurel und Hardy, Greta Garbo oder Louise Brooks und bekannten Regisseuren wie F.W. Murnau, G.W. Papst oder Ernst Lubitsch. Es sind aber auch Filme zu sehen, über deren Existenz man nur staunen kann. Nicht ganz so unbekannt, aber zum Staunen ist „Buster Keatons Flitterwochen“ von 1920, der als Vorfilm des Eröffnungsfilms läuft und zeigt, wie der Zusammenbau eines Fertighauses im expressionistischen Chaos enden kann. Als Hauptfilm läuft „Abwege“ von G.W. Papst, der im Jahr 1928 ein Ehepaar in einer Krise zwischen Lust und Laster zeigt. Bekannter sind sicherlich auch Murnaus „Faust. Eine deutsche Volkssage“ von 1926 und „Ben-Hur“ von 1924, der teuerste Stummfilm aller Zeiten. Und Ernst Lubitschs erster Hollywoodfilm – „Rosita“ aus dem Jahr 1923 – wird ebenso gezeigt wie Robert Reinerts „Opium“ von 1918, der Expressionismus, Surrealismus, Jugendstil und Symbolismus zu einem künstlerischen Reigen vereint. Ganz anders „Die Schwalbe und die Meise“ (1929) von dem Belgier André Antoine. Der Film zeigt Pierre Van Groot mit seinen beiden im Titel benannten Lastkähnen. Die Produzenten fanden das gedrehte Material zu dokumentarisch und stoppten die Produktion – einen fertigen Schnitt gab es nie. Erst 1984 wurde das Material in einer restaurierten Fassung zusammengestellt. Ein ruhiges poetisches Drama, das heute zudem einen unschätzbaren dokumentarischen Wert hat.

34. Internationale Stummfilmtage Bonn | 16. – 26.8. | Innenhof der Universität Bonn | www.foerderverein-filmkultur.de

Autor

CHRISTIAN MEYER-PRÖPSTL

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