Klassiker und Obskuritäten

„Gleiche Moral“, gleiche Rechte? Foto: Förderverein Filmkultur Bonn e.V.

Klassiker und Obskuritäten

Die Internationalen Stummfilmtage hinterfragen Rollenbilder

Die Internationalen Stummfilmtage in Bonn sind eines der langlebigsten Filmfestivals in Nordrhein-Westfalen. In diesem Jahr feiert das Sommerkino im Innenhof der Universität Bonn seine 35. Ausgabe. Und das mit Filmen, die zu einem guten Teil älter als hundert Jahre sind. In einer schnelllebigen Zeit, in der das kulturelle Gedächtnis von Streamingdiensten kaum in das zurückliegende Jahrhundert reicht, geschweige denn die hundert Jahre bis zur Stummfilm-Ära, muss man als Festival schon ordentlich Vermittlungsarbeit leisten.

Das war in den vergangenen Jahren auf Basis einer etwas klammen Finanzierung nicht immer leicht. Aber mit drei Alleinstellungsmerkmalen auf einmal – Stummfilmen, Live-Musikbegleitung und einer tollen Freiluft-Location im Innenhof der Bonner Universität – hat man zumindest in Bezug auf die aktuelle Event-Kultur alle Trümpfe auf seiner Seite. Und so kommen die Gäste jedes Jahr in Scharen und das nicht nur, weil der Eintritt auch noch gratis ist.

Die finanziellen Engpässe sind überwunden, die Förderung durch Stadt, Bund und Filmstiftung auch für dieses Jahr gesichert, so dass auf das filmhistorisch interessierte Publikum unter der diesjährigen Überschrift „Starke Frauen und Kurzzeit-Kavaliere“ wieder ein reiches Programm wartet. Vom 15. bis zum 25. August werden 25 Kleinode präsentiert, die vor allem der Infragestellung tradierter Geschlechterrollen im Stummfilm nachspürt.

Schon der Eröffnungsabend ist in dieser Hinsicht voller Überraschungen: Zwei Kurzfilme der wohl weltweit ersten Filmemacherin erscheinen sehr modern: „Madame in Nöten“ beschäftigt sich mit einer schwangeren Frau, „Emanzipation der Frauen“ kehrt tradierte Rollen im Alltag um: Ein Mann sitzt an der Nähmaschine, ein anderer bügelt, während es sich dazwischen eine Dame gemütlich gemacht hat und sich bedienen lässt. Die beiden Filme von Alice Guy-Blaché stammen aus dem Jahr 1906, bereits ab 1897 leitete sie eine Filmproduktion. Neben weiteren Filmen der Regisseurin zeigt das Festival einen Dokumentarfilm über sie. Als Hauptfilm wird „Gleiche Moral“ von 1929 gezeigt (seinerzeit nachträglich mit Geräuschen und Musik vertont und als erster Tonfilm vermarktet), der mit Greta Garbo in der Hauptrolle einer unabhängigen Frau ein modernes Frauenbild zeigt.

Aber es geht nicht nur um Frauen. Auch „Anders als die Anderen“, Richard Oswalds Klassiker von 1919 und der erste Film, der sich mit Homosexualität auseinandersetzt, hat neben Werken von unvergessenen Meistern wie Ernst Lubitsch, Carl Theodor Dreyer, Marcel Carné, G.W. Papst, Laurel & Hardy oder Buster Keaton einen Platz im Programm. Außerdem gibt es spannende Obskuritäten wie Zeichentrick-Science-Fiction und frühe Kombinationen aus Zeichentrick- und Realfilm sowie einen deutschen Aufklärungsfilm über die Gefahren des Großstadtverkehrs aus dem Jahr 1925 zu bestaunen. Zwei Vorträge ergänzen das Programm: „Die Anfänge von Technicolor“ blickt auf den Übergang zum Farbfilm, der ansatzweise schon in den frühen 20er Jahren mit ersten Kolorierungen einzelner Szenen eingesetzt hatte. Ein weiterer Vortrag beschäftigt sich damit, wie „Das Bauhaus im Film“ seiner Zeit repräsentiert wurde.

35. Internationale Stummfilmtage | 15.-28.8. | Innenhof der Universität Bonn | www.internationale-stummfilmtage.de

Autor

CHRISTIAN MEYER-PRÖBSTL

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