Hinter den Fassaden

Cesare Sofianopulo, Masken, 1930, Öl auf Leinwand, 77,5 x 103 cm Museo Revoltella © Nicola Eccher

Hinter den Fassaden

„Unheimlich real“ im Museum Folkwang in Essen

Knapp ein Jahrhundert ist diese Epoche her: Bereits jetzt wird allenthalben an die Weimarer Republik und die 1920er Jahre erinnert. Die Folgen des Ersten Weltkriegs, der gerade erst beendet worden war, blieben überall sichtbar und wurden doch verdrängt. Die Aufbruchsstimmung ging mit einer fortschreitenden Industrialisierung und der Vitalität der Großstädte, die sich fortan zwischen mondänem Luxus einerseits, und Armut andererseits bewegen, einher. Die Kultur der Avantgarde wirkte für all das als Seismogramm und Schrittmacher. Dies resultierte in einer Entwicklung vieler Kunststile, die rasch aufeinander folgten. Eine wichtige Rolle für die Kunst spielte das Mechanisierte, vor allem die Technik mit ihren Verfahren der Beschleunigung. In Italien war schon im Jahrzehnt davor der Futurismus entwickelt worden, der noch in Bezug zum „Weltstil“ Kubismus stand. Aus Italien kam weiterhin – ebenfalls um 1910 formuliert – die Pittura Metafisica, die mit Carlo Carrà, Giorgio de Chirico und zeitweilig Giorgio Morandi bühnenhafte, leere Räume und Plätze konstruierte. Sie schufen mit mehreren Fluchtpunkten Unruhe in der Ruhe und im Geheimnisvollen psychische Anspannung ansprachen. Daneben stand die Konzentration auf die Phänomene der Wirklichkeit, die wieder andere Maler in Nahaufnahme in genauer, abtastender Aufmerksamkeit kristallin und schablonenhaft fokussierten. Dies gilt besonders für die Neue Sachlichkeit und den Magischen Realismus, die eben das zeigten, was sie versprachen – oder doch noch mehr? Hier setzt die Ausstellung im Museum Folkwang in Essen an. Sie wendet sich der Malerei im Italien der 1920er Jahre  zu. Jetzt wird sie zum ersten Mal in einem deutschen Museum beleuchtet. Zudem gibt es hierzulande noch wenig-bekannte Maler zu entdecken.

Der wunderbare Titel „Unheimlich real“ ist Programm. Er spricht schon an, wie sehr die Malerei die Wirklichkeit durchdringt. Zu sehen sind Stillleben, Interieurs und Stadtansichten, Genreszenen, Aktdarstellungen, vor allem aber Porträts, auch Selbstporträts und Gruppenbildnisse. Kaum Luxus, viel mehr Bürgerlichkeit. Die Gemälde zeichnet eine große Beherrschtheit aus, in der Malerei, aber auch wie sich die Personen in den Bildern selbst geben: Sie lassen sich porträtieren. Die genaue Komposition und die Klarheit der Darstellung dominieren. Das gilt schon für die in dieser Ausstellung vorzüglich vertretene Pittura Metafisica.

DIE KURATORIN Realisiert wird die große Herbstausstellung von der Kuratorin Anna Fricke (*1978). Die promovierte Kunsthistorikerin ist seit 2015 Kuratorin für Zeitgenössische Kunst am Museum Folkwang, wo sie zuletzt die Ausstellung „Alexander Kluge. Pluri- versum“ betreute. Foto: Jens Nober

Von Carlo Carrà ist das seltsame Gemälde „Der Sohn des Konstrukteurs“ (1917-21) zu sehen. Wie eine Marionette, ganz in Weiß gekleidet, steht der Junge in einem schwach erhellten Zimmer, vor sich ein Fenster, in den Händen ein winziger Tennisschläger und ein Ball. Im Holzblock und Stab davor und schon in der partiellen Rasterung der unteren Hälfte des Bildes stecken Hinweise auf den Konstrukteur: Ist dieser nicht der Maler, der das Bild vermisst? Die kalkig, stumpfen Wandflächen sind symptomatisch für viele der Malereien dieses Jahrzehnts und die seiner Ausläufer, die zudem in handwerklicher Präzision vorgetragen sind. Die Ausstellung zeigt in der Vielfalt der Motive und ihren künstlerischen, teils rückwärts-gewandten Umsetzungen, dass die Malerei der 1920er Jahre weniger eine Frage des künstlerischen Stils als eine der Haltung ist, der Durchdringung von Oberfläche, Charakter des Porträtierten und des Reflektierens der gesellschaftlichen Befindlichkeit. Heiterkeit und Melancholie treffen in diesen Räumen und im Ausdruck der Personen ebenso zusammen wie Nachdenklichkeit und Stolz.

Die Besten der Bilder blicken hinter die Fassade – indem sie diese zeigen. Dazu trägt auch die Darstellung von Masken und verkleideter Personen bei – die besonders dem Karneval entnommen sind –, die selbst eine Rolle vorgeben. Ist der Mensch auch so? Die genaue Beobachtung, die sogar zur Verdopplung des Selbstporträts führt, geht in ihrer Ausformulierung mit einer psychischen Aufladung einher, hinter der Ernsthaftigkeit bis hin zur Frömmigkeit steckt.

All das deutet sich selbst bei den wenigen ausgestellten Stillleben an, die schon in ihrer Anlage auf der Fläche, in den perspektivischen Raffinessen und der stur monotonen Ausschließlichkeit im kleinen Format, alles andere als langweilig sind. Freilich geht die grandiose Anspannung der Gemälde in dem allzu biederen, nach Genres geordneten Nebeneinander der rund 90 Bilder der 32 Künstler unter. Für deren Vorstellung wurde im Museum Folkwang einfach keine angemessene Präsentationsform gefunden. Und doch: Die Bilder selbst gehen einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf.

Autor

THOMAS HIRSCH

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