Eingebrannt in Körper und Seele
Prävention, Täterbestrafung und Opferhilfe haben bei Kindesmissbrauch Priorität – engels-THEMA 12/16 KINDERSEGEN
Es sind Fälle, die einem den Atem stocken lassen. Unter anderem in Essen: Bei Recherchen hatte eine Pharmazeutin aufgedeckt, dass bei mehr als 50 Versuchsreihen Medikamente an Heimkindern getestet wurden. Zwischen 1950 und 1975 wurde geimpft, mit Mitteln vollgepumpt und mit den Nebenwirkungen (zum Beispiel Schrei-krämpfe) allein gelassen. Der Test bestand darin, ob die Kinder beruhigt werden könnten. Der Pharmaproduzent bestätigte, dass es entsprechende Unterlagen gebe, sieht die Schuld aber bei den Ärzten. Die Studie soll aufgearbeitet werden. Ob das den Heimkindern von damals noch hilft?
Unter anderem in Heppenheim: Der Tatort Odenwaldschule ist geläufiger. Dahinter verbirgt sich einer der größten Fälle systematischen sexuellen Missbrauchs der Bundesrepublik. 1998 kam der Fall durch Aussagen ehemaliger Schüler ins Rollen, 2010 legte die damalige Schulleiterin eine weitere Untersuchung mit (mindestens) 33 Opfern und acht übergriffig gewordenen Lehrern vor. Seit Mitte 2015 existiert die Schule aufgrund von Insolvenz nicht mehr. Für viele ehemalige Schüler kam dieses Ende Jahrzehnte zu spät.
Diese Fälle erlangten große mediale Aufmerksamkeit. Für viele Opfer sind Missbrauch und Misshandlung allerdings Teil des Alltags. Die Gräueltaten spielen sich manchmal in aller Stille ab. Die „war doch nur ein Klaps“-Backpfeife oder das Beschimpfen nach schlechten Leistungen in der Schule zählen genauso dazu und brennen sich auf der Seele ein. Ein eindrucksvolles Bild, was aus einer Gesellschaft mit unterdrückten und gedemütigten Kindern werden kann, liefert der Film „Das weiße Band“ des Österreichers Michael Haneke. Seine These: Eine durch Konservativismus, Bestrafung und Verrohung geschundene Jugend wird dadurch radikalisiert. Eine Folge der Geschichte des Films wäre der Zweite Weltkrieg, was dort aber unausgesprochen bleibt.
Das Projekt „Mikado“ („Missbrauch von Kindern: Ätiologie, Dunkelfeld, Opfer“) der Uni Regensburg beschreib, was Missbrauch und Misshandlung eigentlich heißen: „Sexueller Missbrauch bedeutet, dass ein Erwachsener oder Jugendlicher sexuelle Handlungen an, mit oder vor einem Kind vornimmt oder an sich vornehmen lässt. Der Täter/die Täterin nutzt dabei die Abhängigkeit, das Vertrauen oder die Unterlegenheit des Kindes zur eigenen Bedürfnisbefriedigung aus. […] Der Begriff der körperlichen Misshandlung beschreibt alle Formen körperlicher Gewalt gegen Kinder, die zu körperlichen Verletzungen führen (z.B. Schlagen, Würgen, Verbrennungen zufügen).“ Missbrauch ist aber nicht auf Körperlichkeit beschränkt. „Seelische Misshandlung oder auch emotionaler Missbrauch beschreibt ein Verhalten seitens der Erwachsenen, das Kindern gegenüber eine feindliche oder abweisende Haltung zum Ausdruck bringt. Das Kind wird beispielsweise abgelehnt, herabgesetzt, isoliert, beleidigt, erniedrigt oder gekränkt.“
In den letzten 15 Jahren haben die Fälle von Kindesmisshandlungen zugenommen. 2001 gab es laut der Polizeistatistik 2.507 (erfasste!) Fälle, 2010 den Höchststand von 3.738, 2015 3.441 Fälle. Eine gute Nachricht gibt es dennoch: Der sexuelle Missbrauch von Kindern ließ in den letzten 15 Jahren nach. Seit dem Jahr 2000 sank die Zahl von 20.417 auf 13.760 Kinder im vergangenen Jahr, die Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Das sagt das statistische Bundesamt. Drei Viertel der Opfer sind laut Mikado Mädchen.
Etwas dagegen zu tun ist schwierig. „Kindesmisshandlung ist eine chronische Krankheit“, zitiert die ZEIT den Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel. Prävention ist das Wichtigste, Strafverfolgung ebenso und ebenfalls die bestmögliche Therapie für die Opfer. Glücklicherweise gibt es eine flächendeckende Versorgung von Kindern, wenn diese Probleme haben. Die Webseite „Trau dich“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Beispiel klärt über Kinderrechte auf und liefert eine Datenbank von Beratungsstellen in der Nähe. Das Kinder- und Jugendtelefon ist anonym, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr kostenfrei unter 116111 erreichbar.
Autor
FLORIAN SCHMITZ