Der Staat belügt immer
Anselm Weber inszeniert Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“ in den Kammerspielen – Auftritt 01/16
Ei, was zum Henker…, nein nicht Schreiber Licht, Eve hat das erste Wort in „Der zerbrochnen Krug“ in Bochum. Alles beginnt mit dem Edikt, „das jüngst erschienen“ und damals zehn Prozent der Jugend zu den Waffen ruft. Die Armen natürlich nur, wer reich war kaufte sich frei oder bestach einen Arzt für ein Attest. Das ist bis in die Neuzeit so geblieben, eigentlich bis heute, die Selbstmordattentäter kommen irgendwie auch nicht alle aus der Oberschicht. Durch diesen Eve Variant, den Heinrich von Kleist ursprünglich in der 12. Szene eingebaut hatte, der ihm (oder dem Publikum) aber dann zu lang wurde und der dann weggekürzt wurde, durch diese Variation des Varianten gleich am Anfang, schafft Intendant Anselm Weber eine neue Atmosphäre in der oft missverstandenen Bauernkomödie. Und mit Sarah Grunert hat er eine überaus glaubwürdige Vertreterin für diese neue Frauenrolle zwischen Aufopferung und Kampfeswillen. Und wer glaubt, sich nach dem langen Monolog auf einen langen Kleist-Abend einstellen zu müssen, nix da einhundert glorreiche Minuten Gerichtsreportage müssen in den Kammerspielen reichen. Dem Krug der Frau Marthe kann eh nicht mehr geholfen werden, aber Ruprecht, dem das Eisen droht, der kommt eigentlich glimpflich aus der Sache raus und muss nicht nach Batavia. Weber nimmt Kleist ernst und bürstet die politische Brisanz in dem Stück so richtig blank. So blank, dass am Ende selbst die Verfehlungen des Dorfrichters eigentlich verblassen. Und das war nicht einfach:
Es ist schon ein richtiger Sauhaufen auf der Bühne, Akten welche Akten? – zerknitterter Papierstau überall, statt Registratur eher ein flächendeckender „Turmbau zu Babel“. Magd Margarethe muss da am Morgen erstmal ordentlich alles in die Ecken fegen, bevor man überhaupt an eine Amtsstube denken könnte. Viel Arbeit und der Regisseur hat ihr auch die Hilfe der zweiten Magd Liese versagt. Selbst die Mauern sind noch hochgefahren, als der verkaterte Dorfrichter unter den Papierstapeln zum Vorschein kommt, und es hat den Anschein, er habe noch mächtig Durst. Doch jetzt kommt endlich: „Ei, was zum Henker“, und vorbei ist es mit der Nachtruhe. Erste Verteidigungslinien müssen aufgebaut werden, der Schreiber ist nicht blöd. Es folgen also der ausgerenkte Fuß, der verfluchte Ziegenbock am Ofen und auch die Katzenmutter, die ausgerechnet in die Perücke gejungt haben soll. Hier hat das Publikum seinen Spaß, das Wechselspiel zwischen Dietmar Bär (Richter) und Roland Riebeling (Schreiber) gewinnt Bär schon allein wegen seiner mächtigen Bühnenpräsenz; Riebeling, der eigentlich die neue Qualität in der Rechtspolitik des Staates werden soll und eigentlich geschickt die Aufklärung des sittlichen Falls des Dorfrichters betreibt, bleibt hier unverständlich etwas blass.
Heda der Büttel (auch gestrichen!). Ganz anders Marco Massafra als Gerichtsrat Walter. Auch hier hat Weber einen ziemlich interessanten Typ entwickelt. Klar, das Obertribunal in Utrecht will zwar nur die Rechtspflege auf dem platten Land verbessern, aber dieser Lackaffe im schwarzen Anzug ist genau die Verkörperung jener Instanzen, die Herr von Kleist immer bekämpft hat. Und Massafra wird ihn am Ende sogar zum politischen Mephisto werden lassen. Dieser (Ver-)Walter der Obrigkeit ist zwar der Untergang von Adams Juristenlaufbahn ohne Studium, aber er ist in erster Linie der eigentliche Gegenspieler von Eve. Denn er kann das jüngst erschienene Edikt, von dem der schlüpfrige Richter behauptet hatte, es bringe die jungen Männer nicht an die Landesgrenzen, sondern nach Batavia in Niederländisch-Indien, nicht entkräften. Irgendetwas stimmt da nicht. Sollte der Staat seine Untertanen damals etwa belogen haben, so wie es heute üblich ist? Selbst in Zeiten des Internets kann man Fakten so oder so auslegen. Das Vertrauen, dass damals (zu Recht) nicht vorhanden war, sollte sich auch heute nie einstellen. Kein Wunder also, dass Walter Eve mit einem billigen Trick überfahren will, Vertrauen durch eine monetäre Wette ersetzen will. Nein, dieser diabolische Gerichtsrat meint es nicht von Herzen gut. Ach ja, der Krug: Anke Zillich kämpft als Frau Marthe Rull brav gegen die neuen Aspekte der aus der Zeit gefallenen Inszenierung. Wie immer wird sie am Ende achselzuckend nach Utrecht auf den großen Markt geschickt.
„Der zerbrochne Krug“ | R: Anselm Weber | So 3.1. 19 Uhr, Mo 4.1., Mi 6.1., Do 21.1. je 19.30 Uhr
Kammerspiele Bochum | 0234 33 33 55 55
Autor
PETER ORTMANN