Der Kampf gegen die Geister der Vergangenheit
Kollektive und individuelle Erinnerungsprozesse bei der Ruhrtriennale
Ein „Konzert im Morgengrauen“ eröffnet die diesjährige Ruhrtriennale in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck. Passender kann niemand den Zeitpunkt angesichts von Pandemie und Umwelthorror wählen. Das Grauen kam immer mit dem Morgennebel, der Angriff auf die dritte übermüdete Nachtwache gehörte zum Standard seit der Antike. Heute leitet der britische Musiker und Klangkünstler Chris Watson die letzte Wache vor dem Sonnenaufgang, während noch die Geister der Nacht ihren letzten Tanz tanzen.

DIE RUHRTRIENNALE 2021: Das jährliche internationale Festival der Künste findet in diesem Jahr an neun Spielorten statt. Das Programm zwischen Musiktheater, Konzert, Schauspiel, Tanz, Performance, Installation, Literatur und Dialog bespielt die traditionellen Stätten der Industriekultur in Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck. Zu sehen sind 37 Produktionen und Projekte, darunter ungewöhnlich viele Eigen- und Koproduktionen und vier Übernahmen aus dem Programm der Ruhrtriennale 2020. In Pandemiezeiten bleiben im Programm auch Veranstaltungen mit freiem Eintritt, trotz der erwartbaren halbierten Auslastung. Barbara Frey, Intendantin 2021-2023, Foto: Daniel Sadrowski
Das Gründungsmitglied der Electro-industrial-Band Cabaret Voltaire (remember absolutely: „Do the Mussolini (Headkick)“) hat dazu Maurice Ravels Klaviertriptychon „Gaspard de la nuit“ und den Reflex des Italieners Salvatore Sciarrino auf Ravel („De la nuit“) in seinen Klangteppich aufgenommen, die junge französische Pianistin Virginie Déjos nimmt da den Kampf gegen die letzten, in den ersten Lichtstrahlen vergehenden Gespenster auf, die ihre Nacht in der Energiezentrale der ehemaligen Zeche verbracht haben, unbemerkt und unbekannt.
Die wichtigste Produktion in diesem Jahr? Schauen wir auf die Zukunft der Welt.
Bei der Jungen Triennale kämpfen in „Paisajes para no colorear/Nicht auszumalende Landschaften“ neun Darstellerinnen aus Chile stellvertretend gegen die Gefahren, die das Frausein immer noch mit sich bringt. Originalzitat: „Wir mussten es ertragen, belästigt, begrabscht, angemacht, beleidigt, diskriminiert, verunglimpft, zusammengeschlagen, vergewaltigt, entführt, aufgespießt und ermordet zu werden, nur weil wir eine Vagina haben und Minderjährige sind.“ Eine unerträgliche Situation, die auch in Europa Gesellschaft und Politik mitträgt, machen wir uns da nichts vor. Prävention, Schutz und konsequente Strafverfolgung sind nicht selbstverständlich und waren es auch nie.
Rund 35 Prozent der Frauen werden in Deutschland nach ihrem 15. Lebensjahr irgendwann Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt, sagt die Bundeszentrale für politische Bildung. „Paisajes para no colorear“ ist eine aufwühlende Melange aus stampfenden Rhythmen und den Geschichten der Performerinnen und aus Interviews mit über 100 weiteren chilenischen jungen Frauen.
Voller Energie und mit ansteckender Wut werden die realen Geschichten von Diskriminierung und körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen auf der Bühne geschildert. Dabei bitten die neun jungen Menschen stellvertretend für die Hälfte der Menschheit auch um Unterstützung für längst überfällige Veränderungen. Doch diese maskulinen Geister sind nicht nur erbärmlich, sondern auch sehr mächtig.
Ruhrtriennale – Festival der Künste | 14.8. – 25.9. | Ruhrgebiet | www.ruhrtriennale.de
Autor
PETER ORTMANN