Beuys inklusive Torte, Kerze und Whisky
Theater, Kunst und Musik gegen Kohle: die Weißen Nächte im Theater an der Ruhr
Gaia zieht die Reißleine, nicht zum ersten Mal seit der Strukturierung des Chaos. Die erste Göttin der Welt rüstet ihre Natur auf: Pandemie, Gewitter, Dammbrüche, Flutwellen, nichts bleibt, wie es war. Auch die Weißen Nächte im Mülheimer Theater an der Ruhr passen sich an, strategisch und inhaltlich. Sie erweitern die lauschigen Bühnenabenteuer zu einem fast dreiwöchigen Festival mit Theater, Konzerten, Poetry, Kunstparcours, Audiowalks und Expeditionen, Performances und Diskursen. Interessanter und umfangreicher kann man die Spielzeit 2021/2022 sicher nicht eröffnen.
Als Premiere gibt es „Onkel Wanja. Into the trees“ von Anton Tschechow. Das scheint angesichts der Klimakrise ein ziemlich prophetischer Theatertext zu sein. Darin sagt der ArztMichaíl Lwówitsch Ástrow:„Die Wälder verschwinden, die Flüsse trocknen aus, die Tierwelt stirbt, das Klima verschlechtert sich und die Erde wird immer ärmer und hässlicher.“ Angesichts der Wende ins 20. Jahrhundert beschreibt Tschechow das Abdriften der Gesellschaft in eine allgemeine Trägheit, die notwendige Reformen nicht zustande bringt, jede Regung dreht sich nur noch um die eigene Person. Was soll man dazu sagen, wir sind über ein Jahrhundert weiter und außer Krieg und Mondlandung hat sich in unserem Verhältnis zur Welt nicht viel geändert. RegisseurPhilipp Preuss verbindet in seiner Inszenierung die Innenwelten der Figuren mit der Außenwelt der Natur. Zum ersten Mal wird die historische Fassade des Theaters im Raffelbergpark zu einer Spiel- und Projektionsfläche.Daneben steht der Foodtruck und eine Wein-Bar, für kulinarische Bedürfnisse ist also auch wieder gesorgt, auch wichtig. Wegen der Erweiterung ist das kleine Festival allerdings nicht mehr umsonst.
Die Reflexion von Tschechows Stück produzierte die Ausstellung „Natur Retour“, die Philipp Preuss als wirklich abgedrehten Kunstparcours mit zahlreichen ungewöhnlichen Künstlernaturen kuratierte.Die vom Menschen veränderte Natur verändert eben auch unsere Sichtweise auf diese Natur, schon diese Installation allein wäre das Eintrittsgeld wert.Zu sehen ist da die Koreanerin Naoko Oriane, die für „Mother Watches“ (2019) alle Armbanduhren ihrer Mutter sammelte und so einen Baum verwandelte. Dazu passen dasDJ-Set „Bressniks 1210“ aus Zweigen, Rinden, Baumscheiben, Waldbeeren von Uwe Bressnik und auch die Arbeit „The Life Story of Cornelius Johnson’s Olympic Oak and Other Matters of Survival“. Da hat sich der Künstler Christian Kosmas Mayer auf die Suche nach einem Eichensetzling begeben, den der afroamerikanische Olympiasieger Cornelius Johnson 1936 von Adolf Hitler bekommen hat. Den findet er als Eiche in Koreatown, Los Angeles wieder und klont sie im Reagenzglas für alle Ewigkeit nach. Aber so weit wollen wir ja gar nicht denken. Vielleicht reicht erst einmal eine Wanderschaft am Rande der Landstraße. Der Drama Walk im Rahmen der Weißen Nächte findet in Mülheim immer mittwochs statt.
Weiße Nächte: Retour Natur | 13. – 28.8. | Theater an der Ruhr | 0208 59 90 10
Autor
PETER ORTMANN