„Alle haben recht und gleichzeitig keiner“

Julia Wissert, Foto: China Hopson

„Alle haben recht und gleichzeitig keiner“

Julia Wissert über „Kinderkriegen 4.0“ am Schauspielhaus Dortmund

trailer: Die Bevölkerung auf dem Planeten steigt. Wieso gibt es in Dortmund einen musikalischen Theaterabend über das Kinderkriegen?

Julia Wissert: Es gibt den Theaterabend über das Kinderkriegen, weil wir nach einem Abend gesucht haben, an dem wir uns selbst nicht ganz so ernst nehmen können. Dieser Text von Kathrin Röggla, der schaut im Grunde auf die Verrücktheiten, die einem passieren – mit und ohne Kinder. Dazwischen ist es schön, auf sich selbst zu schauen und zu fragen, ob es wirklich so ist, wie es sein sollte. Und fühlen wir uns alle wirklich gut damit? Wir dachten dabei an die Eltern, die in dieser Pandemie zuhause sitzen und auch an die Kolleg*innen im Theater, die gesagt haben, das sind bisher richtig harte zwei Jahre. Und daher ist es schön, über die Verrücktheit des Elternseins zu sprechen und vielleicht auch ein bisschen zu schmunzeln und zu lachen.

Zur Person: 
Julia Wissert
wurde in Freiburg im Breisgau geboren und wuchs am Kaiserstuhl auf. Nach dem Abitur lebte sie in Sydney, London und Salzburg. Im Anschluss an ihr Studium der Media Arts und Drama gründete sie gemeinsam mit Kollegen das Physical Theater Kollektiv „Bandidos Perditos“. Seit 2020 ist sie Intendantin am Theater Dortmund.
Foto: China Hopson

Gibt es mehrere Perspektiven, zum Beispiel auch die der Männer?

Das Interessante an dem Text von Kathrin Röggla ist, dass er versucht, ein Kaleidoskop der Perspektiven auf einen Gegenstand zu werfen. Es geht zwar um Kinder, aber es gibt darin auch die Position der Kinderlosen oder der Oma. Das Interessante für mich sind die unterschiedlichen Zeitlichkeiten und Ansichten, die aufeinandertreffen und dabei auch zu merken, wie sich Dinge über die Jahre oder Jahrzehnte verändert haben. Die Männer kommen selbstverständlich auch vor – es geht in diesem Stück nicht nur um die Mütter, sondern auch um die Väter. Das ist eine Diskussion, die aufgemacht wird. Wie es ausgeht, sage ich Ihnen jetzt aber nicht!

Röggla thematisiert den Konflikt Eltern vs. kinderlose Paare – beide Parteien sind laut. Wem wird denn da die Zukunft geklaut?

Ich habe das Gefühl, dass das Spannende an dem Text von Röggla ist, dass alle recht haben und gleichzeitig keiner. Man merkt schnell, dass alle für Facetten stehen, die alle irgendwo eine Berechtigung haben; dass es aber gleichzeitig in der Art und Weise, wie Haltungen dogmatisch durchgezogen werden, sowohl für die Person, die die Positionen vertritt, gefährlich wird als auch für die Gesellschaft insgesamt. Es ist bezeichnend, dass immer wieder diese Sätze fallen wie: „Da muss doch mal Schluss sein. Wir müssen doch mal aufhören. Wann ist endlich Ruhe?“ Röggla macht im Grunde so ein Eltern-Hamsterrad auf. Zum einen für die Kinderlosen mit der Frage der Legitimation von „Darf ich keine Kinder kriegen?“ und zum anderen für die Mütter, die immer mittendrin stecken, die sogenannten Rabenmütter, die sowieso schon immer zu spät sind und wo dann zusätzlich noch Sätze fallen wie: „Im Gegensatz zu Ihnen, muss ich für meinen Lebensunterhalt arbeiten.“ Da schimmern dann gesellschaftliche Hintergründe durch.

Gesellschaftlicher Hintergrund: Mediziner bestimmen die Zeit zwischen 20 und 30 als optimale Zeit fürs Kinderkriegen – der Zeitpunkt wird aber immer weiter nach hinten geschoben. Ist das eine filigrane Form von Gleichberechtigung?

Vielleicht. Das ist eine interessante Frage. Diese Form der Gleichberechtigung wäre sehr filigran. Denn es hängt ja oft mit Geld zusammen. Die Zeit nach hinten zu schieben, bedeutet ja auch, die Zeit einfrieren zu können. Wenn ich als Frau studiere, einen Master mache, vielleicht noch promoviere, um die Karriere zu haben, die ich möchte, dann bin ich sicher Anfang oder Ende 30, bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, ob ich Kinder haben möchte oder nicht. Dabei müsste ich mir vorher noch Gedanken machen, wie ich damit umgehe, dass es sich nach hinten verschiebt.

Das ist ein Dissens, der immer auf den Frauen lastet. Männer haben damit ja prinzipiell kein Problem.

Sehr interessant: In der Recherche zum Kinderkriegen habe ich herausgefunden – in einem Gespräch mit einer guten Freundin, die Neonatologin ist –, dass das nicht stimmt, dass das spurlos an den Männern vorbeigeht. Es stimmt, Frauen haben nur eine bestimmte Anzahl an Eizellen zur Verfügung, aber die Qualität des Spermas verändert sich auch bei Männern. Wir sind gerade in einer Zeit, in der die Fruchtbarkeit von Männern generell zurückgeht. Bei weiblich gelesenen Menschen hat es eine bestimmte Zeitlichkeit, aber die Zeit geht auch an den Herren nicht spurlos vorüber.

Kinderkriegen 4.0 | R: Julia Wissert | 19.3. 19.30 Uhr (P) | Schauspielhaus Dortmund | 0231 502 72 22

INTERVIEW:

PETER ORTMANN

Dieser Artikel erschien auf www.trailer-ruhr.de, lesen Sie weitere Artikel auf www.trailer-ruhr.de/buehne

0