Wenige Gewinner, viele Verlierer

Europa fällt vom Stier, Illustration: Karen Zimmermann

Wenige Gewinner, viele Verlierer

Gleichheit stellt sich nicht durch ökonomischen Wohlstand einiger weniger ein

„In Vielfalt geeint“, lautet das Motto der Europäischen Union seit dem Jahr 2000. Doch von Einigkeit kann kaum mehr eine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Europa spaltet sich immer mehr, die Kluften und Gräben werden tiefer und der Euroskeptizismus immer größer. Einen Tag nach dem Brexit verweist der SPD-Abgeordnete Gabriel bei einer Regionalversammlung auf die Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern der EU. Gewinner und Verlierer? In einem System, welches Chancengleichheit und Wohlstand für alle zum Ziel hatte? Die EU-Politik konnte dieses Versprechen nicht einhalten, denn neben aller Austeritätspolitik und der neoliberalen Denkweise „Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut“, wurde sehr viel Wert darauf gelegt, eben diese Wirtschaft nach der Krise zu retten. Sehr wenig Augenmerk legte man auf die Folgen der strikten Sparpolitik für die Bürger der EU. Dabei betonte der Präsident der Europäischen Gemeinschaft, Jean-Claude Juncker, bei seinem Amtsantritt 2014 ausdrücklich, dass man nicht nur ein gutes wirtschaftliches Ranking erreichen müsste, sondern auch ein soziales Triple-A.
Inzwischen sind ein Viertel der in der EU lebenden Menschen, insgesamt 122 Millionen, von Armut und sozialer Exklusion bedroht. Die Kluft zwischen den nördlichen Staaten und den Krisenländern im Süden, wie Spanien, Italien, Portugal und Griechenland, wird immer größer.
Und auch innerstaatlich verschärft sich die soziale Ungleichheit. Derzeit befindet sich die EU sozialpolitisch an einem Tiefpunkt: In vielen Ländern haben sich die Chancen von Kindern und Jugendlichen verschlechtert, Armut und Exklusion bedrohen alleine in den Krisenstaaten 33,8%. Vielen fehlt es an Geld, um die grundlegendsten Bedürfnisse zu decken. Eine große Zahl junger Menschen geht nicht in die Schule, findet keine Jobs oder wird dem Prekariat zugerechnet. Ihre Zukunft ist damit ungewiss. Mangelnde Gesundheitsversorgung und wachsende Ungerechtigkeit zwischen den Generationen lassen die Menschen zweifeln. Die Entfremdung der Menschen und auch einzelner Staaten von einer „entdemokratisierten EU“, in der viele in ihren Grundrechten verletzt werden oder sich ausgeschlossen fühlen, führt zu Protestbewegungen. Und neben den  Bewegungen in den einzelnen Staaten entstehen auch Bündnisse, deren Akteure aus ganz Europa stammen.
Allen voran steht die, im Februar 2016 durch Yanis Varoufakis vorgestellte, paneuropäische Bewegung „Democracy in Europe Movement 2025“ (Kurz: DiEM25). Diese Bewegung versteht sich nicht als Partei, sondern als ein Netzwerk, das die Demokratisierung Europas fordert. Im Manifest der Bewegung wird das bestehende System scharf kritisiert und festgestellt, dass die Demokratie aus der politischen Entscheidungsfindung genommen wurde. „Eine Verschwörung kurzsichtiger Politiker, ökonomisch naiver Beamter und in Finanzdingen inkompetenter ‚Experten‘ unterwirft sich sklavisch den Beschlüssen der Finanz- und Industriekonzerne, entfremdet die Europäer einander und schürt eine gefährliche, europafeindliche Stimmung. Stolze Völker werden gegeneinander aufgestachelt. Nationalismus, Extremismus und Rassismus erwachen wieder“, liest man. Und nur eine Demokratisierung könne das Auseinanderbrechen Europas vermeiden. Auch das Blockupy-Bündnis in Deutschland protestiert gegen die Missstände in der Europapolitik, unter anderem im Jahre 2015 mit einer groß angelegten Aktion vor der Europäischen Zentralbank und bald auch vor dem Arbeitsministerium.

Um die Ungleichheiten europaweit zu reduzieren, müsste die Politik den Sozialindikatoren sehr viel mehr Gewicht beimessen. Und das in vielen Dimensionen, wie die Studie „Soziale Gerechtigkeit in der EU 2015“ der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Vermeidung von Kinderarmut und der gerechte Zugang zu Bildung kann die Chancengleichheit der jungen Generationen erhöhen. Gleichzeitig müssen ein höheres Beschäftigungsniveau und sichere Arbeitsverhältnisse geschaffen werden. Jeder Bürger der EU sollte Zugang zu guter und bezahlbarer Gesundheitsversorgung haben. Generationengerechtigkeit kann durch Investitionen in die Chancen von Familien durch bessere Betreuungsplätze für Kinder und durch eine Reduzierung der öffentlichen Verschuldung erreicht werden. Und die Politik darf sich nicht nur mit einigen dieser Aspekte beschäftigen, sie alle greifen ineinander und können nicht isoliert gesehen werden. Es war immer ein Teilziel der EU, das Wohlergehen der ihr angehörigen Völker zu gewährleisten. Gleichheit und Gerechtigkeit sind dafür unerlässlich. Doch wird sich diese Gleichheit nicht alleine durch ökonomischen Wohlstand einstellen. Eher ist es andersrum. Höhere Zufriedenheit und größere Gleichheit führen laut Studien letztlich auch zu größerem Wirtschaftswachstum.

Nina Ryschawy

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