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22. Dezember 2016

Frostige Zeiten für warme Gefühle – Wortwahl 01/17

Verdammt ist das kalt. Da draußen. Alle dick eingemummelt. Gegen den beißenden Frost. Ein jeder für sich. Husch, husch, von A nach B. Und dann ab ins Körbchen. Selig, wer sich daheim entblößen kann und auf traute Zweisamkeit trifft …

Auf Sand gebaut – Patrícia Melo „Trügerisches Licht“ [Tropen]

Ein Soapstar versucht sich auf der großen Bühne des Theaters. Hohn und Spott verwandeln sich in blankes Entsetzen, als er sich im Schlussakt das Hirn wegpustet. Aber wie auf Erden so im Himmel. Trugschlösser sind auf Sand gebaut. Auch wenn das keiner wahrhaben will. Die ermittelnde Kriminaltechnikerin Azucena kann ein Lied davon singen, zerfällt ihr privates wie berufiches Glück doch gerade in seine Einzelteile. Gier und Neid und Missgunst bestimmen das gemeine Streben. Als die Schwester ihr den Mann ausspannt, kapselt sich die Polizistin endgültig ab. Ein schonungslos sprödes Gesellschaftsbild, dessen offenkundige Selbstauflösung die rational unterdrückten Sehnsüchte nur noch verstärkt.

Kurz vor Sonnenuntergang – Jeremy Reed „Beach Café“ [Bilger]

Vier Jünglinge: Wie aus Cocteaus Holzschnitten entsprungen. In einer mediterranen Felsenbucht, wo sich griechische Antike und französische Filmkunst paaren. In der androgynen Blüte ihrer Adoleszenz; die morgen schon vorbei sein wird. Es ist der Sommer vor ihrem letzten Schuljahr. Die unweigerlich folgenden gesellschaftlichen Konventionen werfen ihre Schatten voraus, verwandeln die schwelgerische Ode an die ‚Lust zu leben‘ in eine bipolar depressive Elegie aus rettungslos sinnlichem Überschwang und destruktivem Wahn. Fesselnd schön und tödlich zugleich, sehen sie die herbstliche Sturmflut auf sich zurollen. Eine Coming-of-Age-Miniatur, so betörend-leichtfüßig und zugleich bitter-böse wie Lou Reeds „Walk On the Wild Side”.

Die große Flüchtigkeit – Daniel Woodrell „Tomatenrot“ [Liebeskind]

Der 24-jährige Sammy hat seinen Kopf längst in den Sand gesteckt. Ein kleinkrimineller Loser, durchs soziale Raster gefallen, der sich nur noch planlos durchs Leben schlägt. Bis ihn die Teenager Jam und ihr androgyner Bruder Jason bei einem Einbruch in eine Villa überraschen. Auch sie stecken fest im Bodensatz der Gesellschaft, hegen aber noch große Pläne, bei denen Sammy durchaus eine Rolle spielen könnte. Er lässt sich auf die neue Familie ein; zumal deren Mutter, die Teilzeitprostituierte Bev, auch ihre Reize hat. Das ist schon mehr, als Sammy noch zu träumen wagt. Doch auf seine altklug-poetische Art ist ihm traurig-bewusst: Auch funkelnde Sterne sind nicht mehr als Schall und Rauch.

Zwei Leben wie im Roman – Frédéric Beigbeder „Oona und Salinger“ [Piper]

Er hat uns die neoromantische Liebe gelehrt, das bombastische Gefühl, unabhängig von oder – ‚besser‘ noch – ohne durchschlagenden Erfolg. Blut und Tränen und hochtrabende Depression. Was haben wir den „Fänger im Roggen“ verehrt. Doch Beigbeders Aufzeichnung der ‚wahren‘ Liebesgeschichte des Autors zu Charlie Chaplins späterer Frau Oona O‘Neill setzt der Tragik von Gefühlen die Dornenkrone auf. Ein Roman in seiner Form als „Faction“, Fiktion aufgrund einer winzigen Handvoll Fakten, vielleicht vermessen, dafür in seiner selbstreferentiellen Poesie umso grandioser. Zumal einem im Ringen mit dem irdischen Sein eh nicht mehr als eine ‚positive‘ Selbstbewusstheit bleibt.

LARS ALBAT

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