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Laabs Kowalski und Morrison Lewis und Brasse Hering
Foto: Ralph Klement

„Überzeichnet? Minimal!“

29. Oktober 2015

Laabs Kowalski über seine Kindheit im Ruhrgebiet der 70er Jahre – Literatur-Portrait 11/15

„So zärtlich war Suleyken“ – so betitelte Siegfried Lenz seine erste Kurzgeschichten-Sammlung im Jahr 1955. Geschichten aus dem ländlichen Masuren, die auf einem schmalen Grat zwischen historisch verbürgter Familiengeschichte und Absurdität wandern. Wer erinnert sich nicht an die Episode mit den beiden Kutschern, die sich auf einem Waldweg begegnen und, weil keiner dem anderen ausweichen will, dort für Monate verharren, von Dorfbewohnern mit Nahrung versorgt – bis sie für den Bau einer Bahnstrecke beide weichen müssen. „So zärtlich war das Ruhrgebiet“ titelt nun selbstbewusst Laabs Kowalski – und auch in seinem Buch finden sich absurde Situationen, lassen sich Männer zum Kartenspiel nieder, obwohl sie eigentlich ein Haus wegen Feuers evakuieren wollen, endet der Umzug eines Onkels vor einer Trinkhalle, vor der kurzerhand die transportierten Möbel einen provisorischen Biergarten bilden. Doch Kowalski legt Wert auf die Feststellung, dass es sich bei seinem Buch nicht um eine Geschichtensammlung und erst recht nicht um einen Roman handelt, wie in manchen Besprechungen zu lesen ist: „Die Besprechungen übersehen etwas sehr Wesentliches: Das Buch ist KEIN Roman. Es handelt sich vielmehr um autobiografische Erinnerungen. Dargestellt wird EINE Kindheit in den Siebzigern, nämlich meine. Wenn diese Leser einen Roman, der in den siebziger Jahren spielt, lesen wollen, empfehle ich ihnen "Das Mädchen, das den Himmel nicht mochte". Die Handlung spielt im Jahr 1976.“ Die Anmerkung, dass einige der Episoden doch sehr überzeichnet sind, tut er mit der Bemerkung „überzeichnet? – Minimal. Du kennst meine Sippe nicht“ ab…

Strunzdumme Leser und Einreiseverbot

So stellt sich dem Autor nicht die Frage, ob das Buch an einem anderen Ort spielen könnte: „Da es sich um autobiografische Erinnerungen handelt, stand die Verortung nicht zur Debatte. Ich wuchs in Dortmund auf. Und nur dort und im Pott, ausschließlich dort, konnte es eine Familie wie die meine geben. – Leser!“ echauffiert sich der Autor und redet sich in Rage: „Die meisten sind leider strunzdumm. Sie suchen beim Lesen nicht das Fremde und Andere, sondern Bestätigung ihrer eigenen Weltsicht. Das ist wie bei Konzerten. Die Leute klatschen nicht, weil sie einen Song gut finden, sondern weil sie ihn kennen. Wer halbwegs intelligent ist, verzichtet auf Bücher. Aus Büchern lernen zu wollen, ist in etwa so, als würde man einer vor einem Sexshop stehenden Nonne beschreiben lassen, was sich hinter dem Eingang befindet.“

Diese Einschätzung seiner Leserschaft klingt hart, doch Kowalski ist es gewohnt, mit seinen Texten auch anzuecken. Die Bochumer Whiskyleser haben auf einen Kowalski-Text heftigste Publikumsreaktionen wegen angeblicher Frauenfeindlichkeit erhalten und in Österreich soll es laut Kölner Express wegen des Romans „Ich, Jesus Scharlatan“ gar ein Einreiseverbot gegeben haben. „Das Einreiseverbot nach Österreich war eine Geschichte, die ich ganz bewusst und gezielt inszeniert habe, um den Verlag zu retten, der den Jesus-Roman herausgebracht hat“, stellt Kowalski klar. Die Aktion gelang: „Binnen weniger Tage war die Auflage verkauft und der Verlag vor der Pleite bewahrt. Zuletzt meldete sich sogar das österreichische Kanzleramt telefonisch bei mir und sagte, ich solle mit dem Unfug aufhören. Herrlich!“ Doch ansonsten sieht der Autor eine weitverbreitete Unfähigkeit des Umgangs mit Satire: „Es liegt in der Natur der Sache, dass Satire nicht von jedermann begriffen wird. Je dümmer der Leser oder Zuhörer, desto größer die Empörung. Niemand wird einen Krimi-Autor für einen Mörder halten. Erschaffst du eine Romanfigur, die auch nur geringfügig etwas frauenfeindliches äußerst, heißt es dagegen sofort: Der Autor ist ein Frauenfeind. Der Unterschied von Autor, Erzähler und Figur wird plötzlich negiert. – Die Menschen in Deutschland haben das Lesen verlernt. Textverständnis ist zur Ausnahme geworden. Durch das Internet wird jedem Vollhorst die Möglichkeit gegeben, sich zu allem und jedem zu äußern. Ich persönlich weiß sehr wenig über Lachszucht, Quantenphysik und Boden-ph-Werte in der Sächsischen Schweiz und käme daher nicht auf den Gedanken, mich zu diesen Themen zu äußern. Von Texten und Büchern glaubt jeder Idiot etwas zu verstehen. Das ist jedoch nicht der Fall.“

Morrison Lewis und Brasse Hering

Kowalski, dessen bürgerlicher Name Michael Laabs lautet, ist in vielen literarischen Genres zu Hause, in seiner Bibliographie finden sich Romane, Kolumnen und Gedichte. Am einträglichsten jedoch ist seine Arbeit fürs Fernsehen, wo er unter vielen anderen Atze Schröder, Hans Werner Olm oder Markus Maria Profitlich bissige Texte in den Mund gelegt hat. Für diese Arbeit kehrte der gebürtige Dortmunder dem Ruhrgebiet den Rücken: „In Köln sitzen viele große TV-Produktionsfirmen. Ich begann 1992 als Sketch- & Drehbuchautor für eine Firma, aus der später Endemol werden sollte.“ Neben den Veröffentlichungen unter dem Künstlernamen Laabs Kowalski ist der Autor noch unter weiteren Namen schriftstellerisch tätig: „Bestimmte literarische Stile passen nicht zu Laabs Kowalski. Im Falle von Morrison Lewis war es die Idee des Verlegers, der glaubte, ein in den USA spielender Krimi lasse sich mit einem amerikanischen Pseudonym besser vermarkten. Das Pseudonym Brasse Hering ist einfach nur herrlich bescheuert und passt damit zu dem wunderbar meschuggenen Titel "Reise der Lampenschirme durch den Kongo".

Bei jemandem, der als Gag-Autor für Comedians seinen Lebensunterhalt verdient, erwartet man solche Ansprüche womöglich nicht, doch auch bei der Frage nach seinen Lieblingsautoren stellt Kowalski klar, dass er diese nicht in der aktuellen Belletristik-Szene zwischen Tommy Jaud und David Safier findet, sondern eher in der Vergangenheit: „Mein absoluter Favorit ist Heinrich von Kleist, das einzige Schriftstellergenie, das Deutschland je hatte. Danach kommen die Autoren, die zwischen den Weltkriegen publizierten: Ödön von Horváth, Oskar Maria Graf, Heimito von Doderer, Otto Flake, Alfred Döblin ... Nach dem Krieg ist in Deutschland kaum noch erwähnenswertes veröffentlich worden. Gut, es gab Rolf-Dieter Brinkmann und Jörg Fauser. Aktuell am spannendsten finde ich die Entwicklung von Sven Heuchert“, fügt Kowalski noch einen recht unbekannten Newcomer der illustren Aufzählung hinzu sowie Ralf Rothmann als Beispiel aus dem Ruhrgebiet.

Als Kowalskis letzter Roman kürzlich bei dtv neu aufgelegt wurde, hat der Verlag kurzerhand den ursprünglichen Titel „Totensommer“ gestrichen und den eigentlichen Untertitel „Das Mädchen, das den Himmel nicht mochte“ gewählt, eine Entscheidung, die der Autor nicht mitträgt: „Die Satyr-Ausgabe gefiel mir wesentlich besser. Der ursprüngliche Titel und das ursprüngliche Cover reflektieren die düstere Grundstimmung des Romans wesentlich besser. Die dtv-Ausgabe schielt eindeutig auf eine weibliche Kundschaft. 85% der veröffentlichten Belletristik wird von Frauen gekauft. Und Belletristik selbst hat nur einen Anteil von 15% an allen in Deutschland verkauften Büchern. Schlappe 15%. Und davon sind die meisten Titel Krimis und Fantasy-Mist. Echte Literatur findet eigentlich nur noch in einer Mikro-Nische statt.“

Laabs Kowalski: So zärtlich war das Ruhrgebiet | Satyr Verlag | 128 Seiten | 12,90 €

Frank Schorneck

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