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„In der Distanz des Schreibens entsteht die Liebe“

29. Juni 2017

Olivier Voirol über das Entstehen von Liebe beim Online-Dating – Thema 07/17 Neue Zärtlichkeit

trailer: Dr. Voirol, wie bemerkenswert ist es, dass sich Menschen heute online auf Partnersuche begeben?
Olivier Voirol: Es wäre heute sehr komisch, wenn einer sagt: „Ich hab’ mich verliebt, aber die Entscheidung hat mein Vater getroffen.“ Das heißt nicht, dass es nicht passiert. Man merkt aber, dass das nicht ganz richtig sein kann. Man würde denken: „Was für ein traditioneller Typ“. An diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, wie fern wir sind von diesem Modell, was noch Ende der 60er eine große Rolle gespielt hat. Ohne diese Änderungen, die viel mit der Familie zu tun haben, aber auch mit der sozialen Struktur, der Änderung der Schule, der Rolle der Ausbildung, wäre ein Phänomen wie Online-Dating nicht möglich. Es ist nicht die Erfindung des Internets, die diese Plattformen herbeigeführt hat. Es ist nicht allein die Technik, die das möglich macht. Man muss auch die Gesellschaft und ihre Entwicklung in die Überlegungen mit einbeziehen, um auch die Rolle der Kommunikationstechnologien besser zu verstehen.

Wie viele Paare lernen sich über das Internet kennen? Laut einer Studie aus den USA von 2013 sind es etwa ein Drittel der verheirateten Paare.
Ehrlich gesagt finde ich, diese Zahlen sagen nicht viel. Wir müssen erst das soziale Phänomen verstehen, im nächsten Schritt schauen wir, was wir mit diesen Zahlen sagen wollen. Ich nehme nur ein Beispiel. Es gibt viele Plattformen, die sagen, wir haben eine Million Teilnehmer. Wenn wir uns dann genau anschauen, was ‚teilnehmen’ dort heißt, dann sehen wir: Teilnehmen kann heißen, ich habe von der Plattform gehört, ich gehe einmal da drauf, mache ein Profil, ohne zu bezahlen und dann gehe ich nie mehr drauf. Wir haben auch mit Personen gesprochen, die 17 Stunden am Tag online sind. Das bedeutet nicht, dass sie diese Zeit vollständig in der Interaktion verbringen, aber sie sind immer ansprechbar sozusagen. Die sind sehr aktiv, können Sachen nebenbei machen. Und das wiederum ist eine total andere Form von ‚teilnehmen’. Diese Zahlen sagen recht wenig über das Phänomen. Deswegen bin ich da ein wenig skeptisch.

Der Vorwurf gegen das Online-Dating ist: die Kommunikation ist reduziert, es gibt keine Gestik und Mimik.
Das stimmt, dass man die andere Person nicht sieht. In der konkreten Kommunikation wird  sehr viel mehr kommuniziert, was eben nicht sprachlich ist, also visuell oder durch Eindrücke. In dieser direkten Form der Kommunikation wird sehr viel ausgetauscht, ohne, dass wir das formal austauschen. Auf den Dating-Plattformen hingegen erhalte ich Informationen, die wir in der normalen Interaktion nicht mitteilen würden, wie zum Beispiel die exakte Größe der Person. Aber ich würde nicht sagen, dass es online oberflächlich bleibt.

Welche Erfahrungen haben die Menschen aus ihrer Studie auf den Plattformen gemacht?
Manche Teilnehmer der Studie haben seit Jahren Online-Dating praktiziert, andere haben damit aufgehört. Wieder andere haben einen Partner gefunden und waren dort gar nicht mehr aktiv. In unseren Interviews haben sie sehr viel von ihren Erfahrungen erzählt und über ihre Biografie. Die Erfahrungen waren sehr unterschiedlich. Es gab eine Frau, die eine lange Beziehung mit einer Person hatte, die sie in der Wirklichkeit nie getroffen hat. Die Beziehung mit dieser Person war intensiv. Sie hat von tiefer Liebe gesprochen. Mehrmals pro Tag haben sie sich geschrieben, auch zum Teil sehr intime Sachen. Das ging so weit, dass sie sich nach einer gewissen Zeit so viel ausgetauscht hatten, dass sie sich nicht mehr treffen wollten. Sie hatten Angst vor der Enttäuschung. Das ist das Interessante daran. Dieser Kontakt übers Internet kann so intensiv sein, auch, wenn beide sich nicht treffen.

Wie wird Intimität im Internet aufgebaut?
Was diese Geschichte uns erzählt, ist, dass viele Leute sich verlieben durch eine gewisse Symbolisierung, indem sie über die Beziehung sprechen oder schreiben. Es geht hier um die Erzählung, um die Art der Formulierung in der Sprache. Ich möchte damit sagen: Eigentlich entsteht die Liebe nicht nur in der Nähe, sondern auch in der Distanz. Das ist eine sehr alte Sache und überhaupt nicht neu. Dieses Phänomen finden wir in der Romantik, in der Literatur. Es gibt diese Distanz des Schreibens und darin entsteht die Liebe. Interaktivität und eine technische Dimension spielt beim Online-Dating auch eine große Rolle, aber auch die Dimension des Schreibens ist immer vorhanden.

Ist die Tendenz zur Lüge im Internet größer?
Im Prinzip kann ich ein Profil erstellen, wie ich will. Ich kann ein Foto aus dem Netz runterladen und verwenden. Ich kann mir eine andere Identität erschaffen mit einem anderen Alter, ich kann mein Gender verändern. Im Prinzip kann ich sehr viel machen. Klar, dass Leute damit spielen. Auf der anderen Seite ist das auch nicht so einfach, weil sie sich trotzdem in einem Raum der Interaktion bewegen. Die Leute, mit denen sie interagieren, sind wirkliche Leute mit Intentionen und keine Social Bots. Wenn ich also zu Beginn falsche Angaben gemacht habe, dann muss ich dieses Bild in der Interaktion weiterhin aufrecht erhalten und das ist überhaupt nicht einfach. Wenn ich nämlich plötzlich feststelle, dass mein Austauschpartner ganz interessant und nett ist, dann ist es ziemlich schwer, mit dieser falschen Identität weiter zu machen. Spätestens, wenn die andere Person sie wirklich treffen will, dann gibt es eine große Kluft. Denn der andere erwartet, dass es zu dem Profil eine reale Entsprechung gibt. Wenn man die Menschen reden hört, über ihre Erfahrungen, die sie gemacht haben: „Da war ich wirklich verletzt, er hat mich belogen.“ Dann lässt sich feststellen: Sie machen tatsächlich im Internet echte Erfahrungen, die überhaupt nicht virtuell sind. Diese Erfahrungen betreffen ihre eigene Identität. Das ist konkret und hat mit ihrem eigenen Selbstwertgefühl zu tun.

Was macht die Faszination von Online-Dating-Plattformen aus?
Bei den Interviews wurde immer von einer emotionalen Spannung gesprochen, sobald sie das Portal öffnen. Diese emotionale Intensität ist sehr stark ausgeprägt und vielleicht auch höher als bei anderen Interaktionsformen. Dieses Phänomen lässt sich typischerweise wie in einer Liebeserfahrung beobachten, zumindest am Anfang. Wenn man nicht ganz weiß, was man sagen soll und was man von dem anderen erwarten kann. Eben genau, weil man nicht weiß, ob man überhaupt eine Antwort kriegt. Diese Ungewissheit ruft eine unglaubliche Spannung hervor. Gerade auch vor dem Hintergrund, weil man nicht genau weiß, ob es die Wirklichkeit ist oder nicht. Dieses Nicht-Wissen ist auch mit einem Gefühl von Gefahr verbunden. Ich kann dabei auch verletzt werden. Paradoxerweise macht das einen großen Teil der Attraktivität des Online-Dating aus.

Sie sprechen in diesem Kontext vom entrepreneur? Wer ist damit gemeint?
Der entrepreneur agiert in dem Kalkül, dass er seine Ziele maximieren kann. Er analysiert den Raum ziemlich dezidiert als einen Markt. Wir haben bemerkt, dass auf den Plattformen die Idee des entrepreneurs immer präsent ist, in der Art und Weise, wie sie sich an uns richten als Teilnehmer. Wir werden von den Online-Dating-Plattformen quasi eingeladen, uns so zu verhalten und gleichzeitig werden wir auch immer daran erinnert, dass es um Liebe geht. Das sind zwei Sachen, die nicht zusammen passen. Wenn ich mich in einer Liebesbeziehung wirklich wie ein entrepreneur verhalten würde, dann wäre das fatal.

Angenommen, ich habe ein Profil auf einer Plattform und rund um die Uhr Kontakt mit 30 verschiedenen PartnerInnen. Ist das zu viel?
Die Leute denken, es ist leicht. Man meldet sich an, macht sein Profil, dann kann es losgehen, und weil es online ist, schafft man es emotional, auf Distanz zu bleiben. Das stimmt nicht. Was wir während unserer Studie bemerkt haben ist eine Überforderung von Arbeit. Zum Beispiel Menschen, die beschreiben: „Ich hab’ mehreren Personen geschrieben und jetzt muss ich antworten.“ Die dann sagen: „Ich wollte mich verlieben, aber es ist in Arbeit ausgeartet.“ Wenn man das seriös macht, ist das wirklich viel Zeit.

Wann ist ein Profil besonders erfolgreich?
Dabei handelt es sich um Profile besonders aktiver Leute. Sie verbringen mehrere Stunden damit, viele Nachrichten zu verschicken, Fotos hochzuladen und sind sehr präsent in den Online-Interaktionen. Das heißt, sie arbeiten viel dafür und erhalten im Gegenzug eine höhere Sichtbarkeit auf der Plattform. Dadurch, dass sie ganz oben auf der angezeigten Liste erscheinen, werden sie auch öfter kontaktiert. Ein Belohnungseffekt: Sie werden symbolisch mit Sichtbarkeit bezahlt. Und das ist eine Strategie der Plattformen, das muss man schon wissen.

Wer eher schüchtern ist, kommt auch online schlechter ins Gespräch?
Ja, er oder sie ist einfach unsichtbar, wird weniger gesehen und dementsprechend auch weniger kontaktiert.

Welche Strategie verfolgen die Plattformen?
Für die Plattform ist es wichtig, viele Benutzer zu haben, die monatlich einen nicht gerade günstigen Beitrag zahlen. Aber noch wichtiger ist es, aktive Leute zu haben. Die Anbieter wollen, dass ihre Teilnehmer für sie den Beweis erbringen, dass die Profile nicht tot oder inaktiv sind. Dass sie aktive Nutzungsgemeinschaften aufbauen. Denn daraus generieren sie ihren ökonomischen Wert, mit dem sie an die Finanzmärkte gehen. Das bedeutet, dahinter steckt auch ein ökonomisches Modell. Weil die Leute damit den Wert der Plattformen erwirtschaften, dabei aber unbezahlt bleiben. Damit, dass die Leute unbezahlt arbeiten und für sie den Wert erwirtschaften. Dahinter steckt irgendwie eine neue Art von „Ausbeutung“ und von Kapitalismus.

* Das Projekt wurde von Olivier Voirol und Kai Dröge zwischen 2007 und 2012 durchgeführt. Für die Kooperation zwischen dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt und der Universität Lausanne wurden Nutzer von Online-Dating-Portalen interviewt.


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