Wer glaubt, die japanische Kunstform Manga sei eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts, der kann sich momentan im Bochumer Haus Kemnade direkt an der Ruhr für ein besseres Verständnis belehren lassen, wenn er will und wenn er nicht gerade auf den relativ populistischen Titel „Geishas-Dirnen-Kurtisanen“ reingefallen ist. Klar, etwas nackte Haut ist auch zu sehen, ein paar verführerische Farbholzschnitte gibt es auch, die breite Masse aber ist eigentlich eher Propaganda, Werbeblätter oder noch schlimmer: preiswertes Einpackpapier. Als Kulturgut wurde die Massenware Farbholzschnitt in Japan im 19. Jahrhundert jedenfalls nicht betrachtet. Dennoch bleiben die Blätter für einen Westeuropäer immer auch ein Faszinosum, erzählen sie doch von fremden Welten, die lange verschlossen waren und bis heute diesen Reiz der kompletten gesellschaftsphilosophischen Andersartigkeit behalten haben. Amüsierbetriebe gab es auch in Europa, nur waren sie nie so in die Gesellschaft integriert. Der Begriff Dirne ist geläufig, die Kurtisanen wurden im frühen 20. Jahrhundert eher positiv konnotiert, obwohl eigentlich niemand so recht wusste, was er damit meinte.
Geishas jedenfalls haben nichts von alledem. Sie sind eine japanische Kreation, wurden gut ausgebildet, lernten mindestens ein Instrument, beherrschten die geistreiche Konversation – bis heute. Aber am Ende des 19. Jahrhunderts boomte ihr Geschäft, die Amüsierviertel mit ihren Bordellen waren alarmiert, es gab Werbe- und Schmäh-Farbholzschnitte für und gegen das jeweilige Gewerbe. Gut 120 Blätter aus der Sammlung von Gerhard Friedrich Philipp, Leiter des Museums des Landkreises Osnabrück, sind in den historischen Räumen in Kemnade ausgestellt, sie füllen ganze drei Räume, untermalt von Gegenständen der asiatischen Sammlung Ehrich und asiatischen Musikinstrumenten der Sammlung Grumbtaus der Zeit. Sammler Philipp erklärt bei der Eröffnung auch die Zusammenhänge der Farbholzschnitte als Massenprodukt, die nicht einmal auf der Weltausstellung gezeigt wurden. „Die Japaner hielten sie einfach für trivial.“ Denn gedruckt wurde auf Deubel komm raus, und alles was Geld brachte, verkam zur billigen Massenware.
Interessant wie die westliche Kulturschickeria darauf reagierte, als diese „Poster“ den europäischen Kunstmarkt erreichten. Immerhin waren die abgebildeten Frauen eben die „Edel-Prostituierte“, die in der Gesellschaft des sich damals öffnenden Japans hoch angesehen war. Aber auch politische Karikaturen sind in den bunten, comic-artigen Blättern versteckt und wunderbare Geschichten: Wie bei „Eine Katze und eine Ratte fressen zusammen“ (1845/46) vom Meister Utagawa Kuniyoshi (1798-1861). Es geht um das Mädchen O-Tsuro, das auf der Suche nach seinen Eltern von der Mutter ein zweites Mal verstoßen und vom verbrecherischen Vater am Ende unerkannt beraubt und getötet wird. Immer haben diese Blätter zwei Ebenen, einmal das Motiv (hier O-Tsuro) und dazu oben eine bildlich abgetrennte Kartusche mit einer „pseudophilosophischen“ Quintessenz, hier die Katze und die Ratte.
„Geishas – Dirnen – Kurtisanen“ | bis 27.9. | Haus Kemnade Bochum | 02324 302 68
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ins Blaue
„Planet Ozean“ im Gasometer Oberhausen – Ruhrkunst 04/24
Wege der Vermittlung
Radtouren auf dem Emscherkunstweg
Neues aus der Kunstszene
Discovery Art Fair in Köln
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Das eigene Land
„Revisions“ im Rautenstrauch-Joest-Museum Köln – Kunst in NRW 03/24
Diplomatie kreativ
Ingo Günther im Kunstverein Ruhr in Essen – Ruhrkunst 02/24
Zur Liebe
„love/love“im Künstlerhaus Dortmund – Ruhrkunst 09/23
Kunst und Umgebung
„Produktive Räume“ in Haus Lange Haus Esters in Krefeld – Kunst in NRW 08/23
Kunst kommt zum Publikum
bobiennale vom 11 bis 21. Mai in Bochum – Festival 05/23
Draußen, immer
Ein Skulpturenprojekt in Monheim – Kunst in NRW 02/23
Forschungsstation Zivilisation
Andrea Zittel im Haus Esters Krefeld – Kunst in NRW 12/22
Junge Schwarze Formensprache
Dozie Kanu im Neuen Essener Kunstverein – Ruhrkunst 11/22
„Die Realitäten haben sich verändert“
Die Kuratorinnen Özlem Arslan und Eva Busch über die Ausstellung zur Kemnade International in Bochum – Sammlung 04/24
Utopie und Verwüstung
„The Paradise Machine“ in Dortmund – Ruhrkunst 04/24
„Das kann einem einen kalten Schauer bringen“
Direktor Tayfun Belgin über die Gottfried Helnwein-Ausstellung im Osthaus Museum Hagen – Sammlung 04/24
Spuren und Ahnungen
Stefan Müller und Viola Relle im Dialog in der Neuen Galerie Gladbeck – kunst & gut 04/24
Intensive Blicke
Fotografin Annelise Kretschmer im MKK Dortmund – Ruhrkunst 03/24
Kultige Cover
Designagentur Hipgnosis in Oberhausen – Ruhrkunst 03/24
Keine Illusionen
Wolf D. Harhammer im Museum Folkwang in Essen – kunst & gut 03/24
„KI erlaubt uns einen Einblick in ein kollektives Unbewusstes“
Kuratorin Inke Arns über Niklas Goldbachs „The Paradise Machine“ im Dortmunder HMKV – Sammlung 03/24
Unter unseren Füßen
Archäologie der Moderne im Ruhr Museum – Ruhrkunst 02/24
Auf und mit der Oberfläche
Wilhelm Wessel im Emil Schumacher Museum in Hagen – kunst & gut 02/24
„Wir sind stolz darauf, diese Werke im Bestand zu haben“
Kuratorin Nadine Engel über die Ausstellung zu Willi Baumeister im Essener Museum Folkwang – Sammlung 02/24