Ein dunkelroter Vorhang, ein paar Gartenstühle. Die Bässe stampfen. Uwe Schmieder als zähe Großmutter Pernelle erklärt erst mal worum es geht: um den Glauben, der erhebt und heilt, der gesünder sein lässt, der das subjektive Wohlbefinden steigert. Punkt. Im Dortmunder Schauspielhaus ist das französische Sonnensystem Molières noch weit entfernt, seine Sprache auch. Alle hüpfen im Rainer-Langhals-Weiß über die Bühne, die Klein-Kommune ist in Aufregung: Der Feind Tartuffe ist erkannt, der Betrug durchschaut, das Schweinesystem verhindert seinen Rausschmiss. Vater Orgon (ein Riese wie immer: Uwe Rohbeck) hat am religiösen Blut geleckt und sich zum Glaubens-Vampir verändert. Vorhang hoch und ab dafür: Sex, Drugs, Rock und Roll, die Holländer sind da. Ein Wohnwagen kreist mit zwei riesigen Putten um die Wette, dazwischen die dauergeilen Laurents, von Regisseur Gordon Kämmerer eingefügte schwule Diener des Betrügers (großes Kino: Mario Lopatta und Frieder Langerberger), die dauerhaft testen, wie und wo man auf der Bühne nebelige Kopulations-Gymnastik betreiben kann. So weit so gut, so fix ins 21. Jahrhundert gebeamt, dessen Bildmächtigkeit und lockere Dialoge den Abend strukturieren. Oft wird die Szenerie zum Diorama, die Sklaven der Scheinheiligkeit erstarren.
Denn ER betritt die Bühne. Tänzelnder Schritt, Chorhemd mit Stola, entrückter Blick: Björn Gabriel als Tartuffe inmitten der orgiastischen Szenerie, und Mariane (Merle Wasmuth), die Tochter des Hauses, Pernelle bringt es schnell auf den Punkt: Papa wird eine tragische Figur. Das ist er eigentlich schon, denn er will sie nicht nur mit dem Scharlatan verheiraten und hat dies der Tochter längst kausalmächtig verkündigt, er verschenkt auch noch Haus und Hof. Und ruft damit seine Gattin Elmire (Bettina Lieder) auf den Plan. Und die heckt einen einfachen Plan. Sie steigt mit dem sexbesessenen Schein-Geistlichen in den rot beleuchteten Wohnwagen und wird zur notgeilen Furie, während ihr Gatte entsetzt durch das Oberlicht (Kunststoff, klar) zusieht, auch das Publikum wird auf der Außenwand zu einem echten Castorfschen Voyeur. Björn Gabriel nimmt dafür psychopatische Züge und sogar einen Weinflaschenfist in Kauf, bevor er entlarvt seine letzte Karte ausspielen muss: Ihm gehört jetzt alles.
Bis dahin hat Gordon Kämmerer alles im Griff, seine Choreografie im Karussell der Lieblosigkeit funktioniert, die bizarren Figuren haben bei ihm zum Teil andere Wertigkeiten (Marlena Keil als Dorine kommt etwas zu kurz), ihre Wut auch mal wort- und lautlos in den Raum gebrüllt, und irgendwie geistern Töne eines alten New Order-Songs durch meinen Kopf. Tartuffe hat sich gerade geoutet und seine neue Position am Hofe beschrieben; der bettelarme Hausherr soll auch noch in den Knast. Doch jetzt kommt (leider wie fast immer) der reitende Bote des Königs. Bei Kämmerer in Form eines schwarzen Frauenheeres (Dortmunder Sprechchor) und erlöst Orgon. Erinnyen sind das nicht und alles geht ziemlich unspektakulär über die Bühne. Denn es gibt kein neues Leben im alten, und so ist man wieder am dunkelroten Vorhang und den wabbernden Bässen vom Anfang angekommen. Die großartige Ensemble-Family tanzt, das Publikum ist zufrieden, auch wenn es nicht Fisch, nicht Fleisch war, interessant war es allemal.
„Tartuffe“ | R: Gordon Kämmerer | 31.12., 12., 18.1., 1.2. je 19.30 Uhr, 13.1. 15 Uhr | Theater Dortmund | www.theaterdo.de
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