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So soll sie aussehen: Dieurbane Installation „well,come“ im Dortmunder Hafen
Foto: Presse

Der Spielort als Magnet

28. Juli 2016

Der zeitgenössische Musiktheater-Kultur-Event nach den Ferien samt theatralischer Politik: Die RuhrTriennale 2016 – Auftritt 08/16

„Alle Menschen werden Brüder“. Aber so ist es ja nie gewesen. Genau diese Ungerechtigkeit unserer Zeit ist die Antriebsfeder des Programms der RuhrTriennale unter der Intendanz des niederländischen Theater- und Opernregisseurs Johan Simons. Schillerndes Motto immer noch seiner Trilogie: „Seid umschlungen“. Viel Schiller, und deshalb möchte man auch ziemlich zeitgenössisch politisch im Ruhrgebiet agieren: Auch die ungelöste Flüchtlingsproblematik, die von Radikalen aufgezwungene Religionsdebatte, Freiheit im Allgemeinen, der Axt-Terrorismus im Besonderen und vielleicht noch Aufarbeitung der Kolonialzeit prägen deshalb den Veranstaltungskalender. Von gigantischen Waffenexporten aus Deutschland, von Kinderarbeit in Drittländern, von Chemieriesen und ihren Zukäufen hört man eher wenig. Ergo: Johan Simons, übernehmen sie.

Und der macht das clever, macht es wie seinerzeit der große erste Intendant der Ruhrtriennale Gerard Mortier (1943-2014) und streut sein Programm immer wieder in die periphere Region. Da ist 2016 der Spielort Zeche Auguste Victoria in Marl. Und die war doch gerade noch in Betrieb. (Und von hier konnte man sicher auch unter dem Ruhrgebiet eine Woche lang bis nach Dortmund laufen.) Jetzt macht Simons in Marl Musiktheater mit einem Riesenorchester. Sowas gibt’s im Konzertsaal der Kommunen natürlich nicht. Als versierter Ruhrtriennale-Besucher kommt man eigentlich schon ganz schön rum. Auch das ist ein gern gesehener Nebeneffekt. Und der Niederländer mag das. Er will durch die immer neuen Spielorte die Menschen ins Theater bringen, die sonst nicht kommen.

Für Marl adaptiert Simons mit „Die Fremden“ die arabische Fortschreibung eines Camus-Romans von 1942 in Form einer zeitgenössischen Antwort vom algerischen Autor Kamel Daoud. Im Sinn von rechts nach links, aber es ist natürlich die arabische Schreibweise gemeint, alles andere wäre bloße geheime Fantasie. Aber wollen wir tatsächlich so den Massen an unseren Grenzen ein Gesicht geben, und das auch nur für die daran Interessierten da auf der alten Zeche? Keine Ahnung, der zeitgenössische Zwang der Kultur-Event-Macher ist scheinbar groß. Das zeigen auch die Religionsprojekte zwischen Moschee, katholischer Kirche und Hindutempel, inszeniert von Simons selbst. „Urban Prayers Ruhr“ wird mit dem ChorWerk Ruhr als Uraufführung an sechs heiligen Orten im Ruhrgebiet aufgeführt – mit Unterstützung eines Billigschuhhändlers, der seine Produkte weltweit einkauft. Ein Schelm, der in dieser Verbindung teuflisch Böses denkt. Und die heiligen Orte sind auch nicht wie vermutet die drei wichtigsten Fußballstadien und vielleicht ausgesuchte Pommes- und Dönerbuden, nein, ich zitiere: „Glaubensgemeinschaften aus der ganzen Welt machen das Ruhrgebiet zur religiösen Megacity.“ Das bleibt ja nun wohl unser neues Selbstverständnis. Anders herum, jede Auseinandersetzung mit diesen Themen ist natürlich auch eine mit unserer eigenen Gesellschaft. Aus einer ausgedehnten Recherche im religiösen Leben des Ruhrgebiets ist dieses Stück entstanden. Autor Björn Bicker hat nach dem Religiösen im sozialen und politischen Kontext der Städte gefragt.

Eröffnet wird aber traditionell in der Bochumer Jahrhunderthalle. Mit einer Neuinszenierung der „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck, dirigiert vom einstigen Countertenor René Jacobs und unter der Regie von Chef Simons. In der selten aufgeführten Oper (1767) geht es um eine Aufopferung: Alceste, die Gattin des Königs, opfert sich für ihren todgeweihten Gatten, nachdem das Orakel verkündet hat, dass er noch nicht sterben müsse, wenn ein anderer für ihn in den Tod gehe. Vor der Tragödie im sandgestrahlten „Kulturtempel“ Jahrhunderthalle finden an diesem Tag noch Bewegungsspiele mit den Besuchern statt. „Teentalitarismus“ heißt die Aktion, die ehemaligen Workingclass-Heroes des Bochumer Vereins hätten so damals vor der dröhnenden Maschinenhalle bestimmt auch ihren Spaß gehabt. Heute hat man den vielleicht schon im Dortmunder Hafen mit einem pinkfarbenen Kunst-Container am Haken eines Laufkrans. Mit „well,come“ produziert Urbane Künste Ruhr für die Ruhrtriennale dort eine künstlerische Dauer-Intervention der Gruppe „osa_office for subversive architecture“. Wo Waren und Menschen sich heute fast selbst transportieren, wird der ehemalige Güterverladekran zur Plattform für die Auseinandersetzung mit dem Ruhr-Environment – vielleicht als Happening? Zum Schluss etwas Mathematik: 900 Künstler aus 25 Nationen. 120 Aufführungen bei 32 Produktionen. Rund 50.000 Karten (etwas weniger!) für rund fünf Millionen Einwohner (etwas mehr!), das macht, ich rechne: Ein Prozent. Wir fühlen uns dennoch umschlungen.

Ruhrtriennale 2016 | 12.8.-24.9. | zehn Kommunen | www.ruhrtriennale.de

PETER ORTMANN

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