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Katharina Pühl
Foto: Martha Dörfler

„Das Elend hat nie ganz aufgehört“

26. April 2018

Sozialwissenschaftlerin Katharina Pühl über Marx, Klassenkampf und Utopien

trailer: Frau Pühl, sind Marx‘ Thesen zur Verbesserung der ArbeiterInnensituation durch das Scheitern des Kommunismus desavouiert?
Katharina Pühl: Die Frage umfasst zwei Aspekte. Der eine ist, was die Marxsche Gesellschafts- und Kapitalismusanalyse, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, heute leistet. Der andere ist die Frage, was konkrete politische Systeme daraus gemacht haben. Das eine mit dem anderen zu verwechseln, ist nicht hilfreich. Jede Theorie ist von einer späteren Zeit neu zu prüfen. Marx erlebt aktuell eine Renaissance. An der Universität steigt die Nachfrage, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Die Einsicht, dass die Entwicklungen des neoliberalen, globalisierten Kapitalismus zerstörerisch wirken, bringt uns zurück zu seinen Analysen. Die sozialistischen Systeme kann man historisch nicht über einen Kamm scheren, da sie je nach Region und politischer Entwicklung unterschiedliche Voraussetzungen hatten. Die Erfahrungen sind nicht durchwegs schlecht, sondern wurden z.B. durch die Brille des kapitalistischen Westens im Kalten Krieg interpretiert. Marx hat bekanntlich über sich gesagt, er sei kein Marxist… Man kann den Autor nicht dafür haftbar machen, was die Geschichte aus seinen Lehren zu lesen meint. Marx hat philosophisch viele Ansätze entwickelt, anhand derer Sozialwissenschaften bis heute analysieren, wie sich der neoliberale Kapitalismus verändert.

Es gibt in Deutschland nicht mehr das Elend der FabrikarbeiterInnen des 19. Jahrhunderts, aber Lohndumping, Mindestlohn und Massenentlassungen. Kann man das im Sinne Marx‘ lösen?
Was ist die Lösung? Das Elend hat ja nie ganz aufgehört. Selbst im relativen Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg hat es immer soziale Randzonen gegeben. In den 1950er Jahren wurden Leichtlohngruppen für Frauen am Band kreiert. Wir schauen oft auf Beschäftigtengruppen wie männliche Industriearbeiter, die relativ gut dastanden und starke Gewerkschaften hatten. Das galt nie für alle. Andere mussten um ähnliche Standards kämpfen. Die marxistisch-kritische Sozialwissenschaft zeigt, dass der Standard in den 60er, 70er Jahren den männlichen Familienernährer prämierte, dagegen den Status der Ehefrau als abgeleitet konstruierte. Das hat sich verändert, indem Frauen in den Arbeitsmarkt eintraten. Für die stabile Situation in Ländern des globalen Nordens waren Bedingungen wie feste Wechselkurse Voraussetzung. Durch deren Aufgabe Anfang der 70er Jahre setzten Entwicklungen kapitalistischer Veränderungen ein, die zur Finanzkrise 2007/08 führten. Finanzmarkt-getriebener Kapitalismus entfaltet eine Eigendynamik gegenüber stabiler Beschäftigung und sozialstaatlicher Kompromissbildung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Prekarisierte Ausgangsbedingungen in den Produktions- und Distributionsverhältnissen haben dazu geführt, dass der Druck auf Löhne und feste Beschäftigungsverhältnisse zugenommen hat. Das führte zur Ausgrenzung von Leuten aus dem Arbeitsmarkt und zu Hartz IV. Viele arbeiten heute mit befristeten Verträgen, unter prekären Bedingungen und geringer sozialer Sicherung. Viele müssen ein kleines Einkommen aufstocken, manche zur Rente zuverdienen. Das wird sich mit Blick auf die demografische Entwicklung in den nächsten 10, 20 Jahren noch verschärfen. Der Kapitalismus frisst sich selbst auf, wenn Märkte keine Renditen mehr ergeben. Dann werden Strategien gesucht, wie man Mehrwert generieren kann, vor allem auf Kosten jener, die nicht stabil in den Arbeitsmarkt integriert sind, und durch schwach steigende Löhne. Indem Leiharbeit ausgeweitet wurde, gibt es heute LeiharbeiterInnen und Festangestellte nebeneinander. Soziale Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäuser, Pflegeheime stehen unter Kostendruck und werden privatisiert. Folge: zu wenig Pflegende, zu wenig Zeit zum Pflegen. Das baden die Beschäftigten und die zu Pflegenden aus, die Arbeitsbedingungen sind teils nicht tragbar.

Es gibt einerseits Erwerbsarmut, andererseits Manager mit astronomischen Gehältern. Ist diese Entwicklung politisch auszugleichen?
Sie wäre natürlich politisch zu verändern, die Frage ist, ob man dafür gesellschaftliche Mehrheiten bekommt. Die jetzige Koalition steht nicht dafür. Studien des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty erbrachten drastische Zahlen über die steigende Ungleichheit. Durch den spekulativen Finanzkapitalismus haben Möglichkeiten, Reichtum zu vermehren, in kurzer Zeit zugenommen. Transaktionen sind nicht kontrollierbar. Unter Kanzler Kohl wurde die Erbschaftssteuer abgeschafft, die Kapitalsteuer gesenkt. Verdeckte Geldanlagen sind schlecht zu kontrollieren. Analyse und Kritikpunkte sind klar. Die ethische Bewertung lautet: ‚Das ist Raub‘, weil viele negativ betroffen sind. Man kann politische Stellschrauben wie Renten- oder Steuerrecht nennen, über die ein gutes Leben herstellbar wäre. Die Gut- und Bestverdiener müssten einsehen, dass der jetzige Zustand kein gerechtes Gemeinwesen darstellt.

Trifft angesichts dessen Marx‘ Analyse immer noch zu oder schon wieder?
Sie hat nie aufgehört zuzutreffen. Seit über 200 Jahre befinden wir uns in der Herausbildung kapitalistischer Vergesellschaftung durch verschiedene politische Systeme hindurch. Der Faschismus war eine Zeit zugespitzten Kapitalismus‘. Der Prozess lief durch die Weltkriege durch. Wenn man Aufbau- und Zerstörungszyklen anschaut, kann man von Kontinuität sprechen. Man kann untersuchen, wie sich gesellschaftliche, politische Verhältnisse im Einzelnen entwickeln und der Mehrwert verteilt wird. Darum geht es im Kern bei Marx: Dass Mehrwert produziert und abgeschöpft wird, aber nicht allen zugutekommt, weil er in den Händen von wenigen AkteurInnen ist. Insofern ist Marx genauso aktuell wie damals. Er hat den Anstoß zu einer bestimmten Ökonomieanalyse gegeben, die von vielen weiterentwickelt wird. Er hat einen spezifischen Theorietypus entwickelt und dafür Analyseinstrumente geliefert. Als Journalist beschrieb er, was diese Entwicklung für das Leben aller bedeutet. Vom frühen Kolonialismus bis heute geht Ausbeutung auf Kosten von Menschen, aber auch der Umwelt. Die düstere Analyse lautet, dass wir „über unsere Verhältnisse leben“. Wenn wir an der kapitalistischen Produktionsweise nichts ändern, werden sich die Lebensbedingungen weiter verschlechtern.

Wäre das bedingungslose Grundeinkommen im Sinne Marx‘?
Dazu gibt es viele Debatten und Gestaltungskonzepte. Das bedingungslose Grundeinkommen soll nicht nur Beiwerk in einer kapitalistischen Gesellschaft sein, sondern zielt auf eine andere Weise von Umverteilung. Laut Modellrechnungen ergäbe es Verbesserungen für Viele. Die Kritik fußt auf der protestantischen Ethik: Wer nicht arbeitet, soll auch kein Geld bekommen. Das Grundeinkommen steht für einen anderen Ansatz: Jeder Mensch hat das Recht auf ein lebenswertes Leben. Das gebieten Humanität und die Tatsache, dass wir aufeinander verwiesen sind. Es würde viele von Existenzsorgen befreien. Man kann freier über seine Arbeit entscheiden, etwa auch ehrenamtlich tätig sein. Der zentrale Gedanke ist, dass ein existenzsicherndes Einkommen die Grundlage bildet, wodurch eine Vielzahl von Arbeit, bezahlt und unbezahlt, möglich wird.

Ist heute ein Klassenkampf vorstellbar, ähnlich wie 1917 in Russland, 1918 in Deutschland und Österreich?
Dies ist keine Frage historischer Stufen. Es wurde fortwährend am Klassenbewusstsein gearbeitet, zahlreiche Wellen der ArbeiterInnenbewegungen weltweit haben den Kampf geführt, etwa gegen schlechte Arbeitsbedingungen in der Industrie und für mehr Lohn. Sie sind heute ausgeweitet durch Bewegungen, die z.B. die Umwelt oder Care-Arbeit einbeziehen. Das hatte Marx viel zu wenig im Blick: Die Arbeit von Kindererziehung bis Altenpflege wird schlecht oder gar nicht entlohnt. Hier gab es Emanzipationskämpfe der Frauenbewegungen. Es ist eine Geschichte von Kämpfen in Permanenz. Richtig ist, dass aus Revolutionen nicht immer stabile Bedingungen entstanden und sie ihren Preis hatten, aber gleichzeitig haben sich Räume geöffnet für andere Lebensperspektiven. Es gibt einen Marxschen Terminus: Die Klasse an sich und die Klasse für sich. Zwischen der Beschreibung drastischer Arbeitsbedingungen und dem Zusammenschluss von Ausgebeuteten liegt der Schritt der Bewusstwerdung, der Formierung von Gegenpositionen und Forderungen. Heute merken viele, dass es so nicht weitergehen kann. Aber rassistische, nationalistische Abgrenzungen werden die Probleme aufgrund des globalisierten Kapitalismus nicht lösen. Das ist anachronistisch und jenseits dessen, was sich faktisch abspielt.

Hat sich Marx‘ Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft als Utopie erwiesen?
Nein, bloß weil wir sie in dieser Form noch nicht realisiert haben, heißt es nicht, dass sich die Idee erledigt hat. Der globalisierte Kapitalismus schafft menschenfeindliche Verhältnisse. Wenn man daran glaubt – und das tun viele –, dass für die Menschheit Besseres zu erreichen ist, dann ist die Idee immer noch da. Momentan kann sie nur in kleineren gesellschaftlichen Räumen gestaltet werden, zum Beispiel in Genossenschaften, Wohnprojekten oder alternativen Wirtschaftsformen wie solidarischer Landwirtschaft. Es gibt einen Reichtum an Praxen, wie man anders produzieren und verteilen kann. Diese Gegenbeweise im Kleinen müssten verallgemeinert werden, damit alle etwas davon haben.


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Interview: Katja Sindemann

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